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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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Morgen nickt er leicht; ich nehme an, dass er bemerkt hat, dass ich
mit dem Schreiben angefangen habe und dass er mir dazu gratulieren will. Oder
mich zumindest wissen lassen will, dass er es bemerkt hat, es handelt sich um
eine äußerst diskrete Annäherung, dennoch durchströmt mich ein Hauch von Wärme
und Zuversicht.
    Eine
Sekunde, höchstens zwei, dauert das an; ich erwidere sein Nicken und fange an,
das durchzulesen, was ich bis jetzt zustande gebracht habe.
     
    Es
ist halb drei, als ich die Bibliothek verlasse. Ich setze mich mit einem Kaffee
draußen vors The Grey Dog's Cafe
und rufe Winnie an. Ich kann schräg gegenüber eines unserer Fenster sehen, aber
es ist zu klein und zu weit oben, als dass ich hineinschauen könnte. Ich kann
nicht abschätzen, ob sie zu Hause ist oder nicht.
    Ich
erhalte keine Antwort. Was alles Mögliche bedeuten kann. Sie kann daheim sein,
aber nicht drangehen wollen, weil sie arbeitet. Sie kann im Schwimmbad in der
36. Straße sein; da geht sie mindestens zweimal die Woche hin, schwimmt und ruht
sich aus, Stunde um Stunde, sie behauptet nie, dass es der Heilung dienen
könnte, aber vielleicht tut es das ja doch. Vielleicht ist das der Grund für
ihre Besuche dort, bewusst oder unbewusst, sie hat schon immer eine besondere
Beziehung zum Wasser gehabt.
    Vielleicht
ist sie aber auch nur in der Stadt unterwegs. Anfangs hat sie sich täglich
Kunst angesehen. Metropolitan und Neue Galerie. Guggenheim und MoMA und die
Galerien in Chelsea und
am West Broadway. Aber damit hat sie jetzt aufgehört. Jetzt malt sie
stattdessen, und zwar auf mindestens vier Leinwänden, wenn ich richtig gezählt
habe. Öl und Eiöltempera. Bisher durfte ich noch nichts sehen, so ist es immer
gewesen, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Bilder sind für Blicke
gemacht, sagt sie. Wenn sie erst einmal fertig sind, ist das ihre einzige
Funktion, aber während sie geboren werden, darf man sie noch keinen Blicken
aussetzen. Ist es mit deinen Texten nicht das Gleiche?
    Meistens
stimme ich ihr zu, ja, mit meinen Texten ist es das Gleiche. Die Worte müssen
sich erst ein wenig setzen, eine Zeit lang zur Ruhe kommen, bis sie das
Tageslicht ertragen. Koagulieren, so
nennen wir es.
    Als
ich das zweite Mal anrufe, geht sie ran. Sie ist auf dem Heimweg von einem
Laden für Künstlerbedarf unten am Canal. Ich
frage, ob ich ihr entgegenkommen soll. Sie antwortet, lieber nicht, ich kann
ihrer Stimme anhören, dass sie ein oder zwei Gläser getrunken hat. Ich denke,
dass wir in genau einem Monat unseren siebten Hochzeitstag haben.
    Plötzlich
bin ich unsicher, ob wir es jemals bis dahin schaffen werden.
     
    2
     
    Es
war am 25. November 1999. Mein dritter Roman, Die
Perspektive des Gärtners, war im September
herausgekommen, und ich befand mich in meiner achten Lesewoche.
    Was
nun genau dafür ausschlaggebend war, konnte ich nicht sagen, aber ich empfand
einen zunehmenden Ekel sowohl mir selbst als auch dem Buch gegenüber, das ich
Abend für Abend an verschiedenen Orten in verschiedenen Teilen des Landes
vorstellte. Ich konnte die gesichtslosen Hotelzimmer nicht mehr voneinander
unterscheiden, das vielköpfige Publikum nicht von dem des Vortages oder von dem
der letzten Woche, aber an den letzten Abenden hatte ich Gesellschaft von drei
anderen Autoren gehabt, die sich alle mehr oder minder in der gleichen misslichen
Lage befunden hatten wie ich. Es war eine Erleichterung, nicht allein zu sein,
zumindest versicherten wir uns das gegenseitig zwischen unseren Auftritten, um
die gute Laune und den sogenannten Schwung aufrechtzuerhalten.
    Im
Nachhinein weiß ich natürlich, dass die Stadt Aarlach hieß, aber ich bin mir
nicht sicher, ob mir das klar war, als ich hinter dem wolkenmarmorierten
Rednerpult auf der Bühne meinen Platz einnahm, um wieder einmal die immer
gleichen Worte, die immer gleichen versprengten Beobachtungen und leicht dahin
geworfenen Wahrheiten über das Leben und un sere grundlegenden Lebensbedingungen von mir zu geben, denen ich
zu diesem Zeitpunkt schon so viel Saft ausgepresst hatte, dass ich bezweifelte,
es könnte noch einen einzigen Zuhörer geben, der nicht bemerkte, wie blutleer
das alles klang.
    Obwohl
das Ganze anfangs den anspruchsvollen Stempel des reinen Ernstes und der
unverfälschten Berichterstattung getragen hatte, dessen war ich mir sicher. In
dieser Absicht bin ich an das Ganze gegangen, und so war es auch gewesen. Aber
welche Geschichte, welche Episode erträgt es schon, Abend für
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