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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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ausmacht, wegfällt, wenn der Abstand
zwischen den Gesprächspartnern zu einem Nichts zusammenschrumpft. Eine dumpfe
Welle der Unlust durchfuhr mich, und ich wünschte, ich hätte Mumm genug
besessen, einfach aufzustehen und das Lokal zu verlassen. Aber das hatte ich
nicht.
    Sie
bemerkte meine Verlegenheit. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich wollte Sie nicht
belästigen. Ich bin Ihnen zu nahe getreten, das war dumm von mir.«
    Ich
schaute mich am Tisch um, während ich versuchte, mich irgendwie wieder in den
Griff zu bekommen. Alle anderen Gäste saßen in kleinen Gruppen ins Gespräch
vertieft, einige hatten Zigaretten oder Zigarren angezündet, und keiner von ihnen
nahm auch nur die geringste Notiz von mir und der unbekannten Frau. Ich trank
noch einen Schluck Wein.
    »Wer
sind Sie?«, fragte ich und stellte mein Glas ab. »Ich glaube, wir sind einander
nicht vorgestellt worden.«
    Sie
lachte, nahm dabei jedoch nicht ihre Hand von meinem Arm.
    »Sie
sind so altmodisch«, sagte sie. »Das gefällt mir. Möchten Sie, dass ich Sie in
Ruhe lasse?«
    »Ich
weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich
bin nicht ganz bei der Sache heute Abend, es war eine anstrengende Woche.«
    »Sie
möchten, dass ich Sie in Ruhe lasse?«, wiederholte sie.
    Ich
betrachtete ihr Gesicht, dessen Konturen sich plötzlich aufzulösen schienen.
Einen Moment lang fürchtete ich, ich könnte wieder mein Sehvermögen verlieren,
doch dann stabilisierte sich alles, und erst da stellte ich fest, wie schön
sie war.
    »Was
wollen Sie von mir?«, fragte ich. »Wer sind Sie?«
    »Ich
heiße Winnie Mason«, sagte sie. »Lassen Sie uns von hier verschwinden. Ich muss ernsthaft mit Ihnen reden.«
     
    Zwei
Minuten später standen wir draußen auf dem Bürgersteig im Regen. In Aarlach,
es war Viertel nach elf Uhr abends, der 25. November 1999. Und ich stand dort
mit einer Frau, die Winnie Mason hieß.
     
    3
     
    Ich
bleibe noch eine Weile im Grey Dog sitzen.
    Spüre
eine Art Unentschlossenheit, die mich aber nicht stört. Sie muss nicht hinterfragt werden; ich betrachte die Menschen, die
vorbeigehen, und stelle fest, dass es mir gefällt, hier zu sitzen. In gewisser
Weise spiegelt sich hier die ganze Welt. Alle Rassen, alle Altersgruppen, alle
Temperamente sind in diesem Viertel vertreten. Junge Frauen und Männer, die
ihr Leben selbst bestimmen und auf Traditionen pfeifen; zumindest möchte ich
mir das einbilden, und leider ist ja die Illusion oft stärker als die
Wirklichkeit, da es allein die Illusion ist, die wir sehen und mit der wir uns
befassen, zu mehr bleibt keine Zeit; ältere Damen und alte Greise außerdem,
Schwarze, Weiße, Latinos und
Juden. Eine Gruppe von Kindern unterschiedlicher Hautfarbe strömt aus der
katholischen Schule an der Ecke zur Bleecker Street; der alte Russe mit seinem
hinkenden Hund schleppt sich vorbei, und Mr. Mo, der Chinese, dem der Waschsalon
gehört, betritt den Bürgersteig und zündet sich eine Zigarette an. Blinzelt in
die Sonne. Zwerge und Fotomodelle, Bucklige und O-beinige; Koreaner, Kubaner,
Homosexuelle und Heterosexuelle; ein vermutlich asexueller Neuseeländer namens
Ingoisen, zumindest vermuten Winnie und ich, dass er asexuell ist, seit wir
einmal mit ihm an einem Tisch in The Noodle Bar gegenüber
der Kirche gesessen und uns eine Stunde lang unterhalten haben, an einem
unserer ersten Abende hier in der Stadt... alle Arten, wie gesagt, jede
denkbare Variante, jeder vorstellbare Kompromiss; wenn man diesen Bürgersteigverkehr
nur eine einzige Minute stoppte und erfragte, von welchen Orten auf der Welt
die Eltern der Vorbeigehenden einmal kamen, Vater und Mutter, gewissenhaft und
systematisch, ohne jemandem zu nahe zu treten, und wenn man anschließend kleine
Nadeln mit bunten Köpfen auf einem Globus befestigte, ja, dann würde man ein
wunderbar breites Bild bekommen.
    Gedanken
dieser Art habe ich mir eigentlich täglich gemacht, seit wir hier sind,
womöglich hat es etwas damit zu tun, dass wir uns auf einer Art Flucht befinden
und dass eine Art beruhigende Feststellung darin liegt, in den hier
vorgestellten mentalen Bahnen zu wandern, in den Gräben der Fremde, wie es
einmal jemand genannt hat, ein Däne oder Belgier bestimmt... während man sich
gleichzeitig einbildet, in der großen weiten Welt zu sein, ja, so ist es
wahrscheinlich. Jungfräulicher Boden.
    Die
paradoxe Einfachheit der Vielfalt; vielleicht gibt es irgendwo dort auch einen
Stecknadelkopf, der
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