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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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Thema zu vermeiden. Es ist nicht das erste Mal, dass Winnie
mit dieser Art von Behauptungen kommt, und meine übliche Reaktion ist,
möglichst keine zu zeigen. Oft, wenn auch nicht immer, lässt sie die Sache dann
fallen, und ich kann selten sagen, ob sie mein Desinteresse als reine Skepsis
definiert. Oder denkt sie, dass ich sie nicht ernst nehme? Und deshalb das
Thema nicht anspreche?
    Weiterhin
bin ich mir nicht im Klaren darüber, wie viel meine Skepsis für sie bedeutet.
Vermutlich recht wenig, wenn es die noch lebende Sarah ist, die auf der anderen
Waagschale liegt. Doktor Vargas gab
mir den Rat, meiner Frau gegenüber nicht allzu viel in Frage zu stellen; er
betonte das zweimal, sowohl als Winnie aus dem Krankenhaus entlassen wurde als
auch beim letzten Mal, als wir uns sahen, ein paar Wochen, bevor wir
hierherzogen. Ich kann mich noch an seinen forschenden, etwas schielenden
Blick erinnern: Ihnen ist klar, worum es geht, nicht
wahr? Sie wissen, wie Sie mit ihr umgehen müssen, wenn Sie diese Sache
gemeinsam bewältigen wollen?
    Keine
Konfrontation. Keine Provokation. So habe ich es interpretiert. Gar nicht erst
versuchen, meine Frau zu der Einsicht zu bringen, dass Sarah mit größter
Wahrscheinlichkeit für alle Zeiten verloren ist. Ein dünner Hoffnungsstreifen
kann einen Menschen länger am Leben halten, als wir es uns normalerweise
vorstellen. In den meisten Fällen bis zu seinem natürlichen Ende.
    Ebenso
wahr ist, dass es das Schrecklichste ist, mit der Ungewissheit leben zu müssen.
Es gibt verschiedene Arten von Wahrheiten, jeder sollte die finden, die er am
besten ertragen kann.
    »Ich
möchte, dass du dir mein Bild ansiehst«, erklärt sie unvermutet, als ich aus
dem Badezimmer komme. »Ich glaube, ich habe alles so eingefangen, wie es sein
soll, aber du musst mir mit dem Letzten helfen.«
    Sie
hat die Leinwand bereits vom Loft heruntergeholt, jetzt dreht sie sie richtig
herum und stellt sie auf einen der Küchenstühle. Schaltet ein Spotlight ein
und richtet es direkt auf das Bild. Ich bin vorbereitet, kann mich aber dennoch
nicht gegen den starken Eindruck wehren, den das Gemälde bei mir hinterlässt.
Oder was immer es ist. Die Leinwand ist nicht größer als vierzig mal sechzig
Zentimeter; Eiöltempera, das ist schon immer ihre Lieblingstechnik gewesen,
das Motiv eines der üblichen, aber dieses Mal weist das Bild eine fast
fotografische Schärfe auf.
    Ein
Stück unseres Rasens im Vordergrund, mit einer hellgelben Decke und ein paar
Stofftieren. Der rote Briefkasten und die niedrige Steinmauer. Das parkende
grüne Auto. Sarah, die in ihrem kurzen blauen Rock, ihrer etwas helleren Bluse
und mit ihrer kleinen, abgewetzten Schultertasche auf dem Bürgersteig steht.
Ihr rotbraunes Haar, das vom Wind etwas angehoben wird, man gewinnt den
Eindruck, sie hätte mitten in einem Schritt innegehalten, wäre stehen
geblieben, weil der Mann, der vor dem Auto steht, die linke Hand auf der
Motorhaube, ihr gesagt hat, sie solle stehen bleiben. Er steht irgendwie ziemlich
locker da, der Schwerpunkt liegt auf dem rechten Bein; er ist relativ groß und
dünn, trägt dunkle Schuhe und eine lange Hose und einen dünnen Mantel, der
fast, aber nicht ganz, den gleichen Farbton hat wie das Auto.
    Er
trägt ein weißes Hemd, das am Hals aufgeknöpft ist, und er hat kein Gesicht.
    Auf
der anderen Straßenseite stehen parkende Autos. Ein schwarzes, zwei rote, der
vordere Teil eines weißen. Hinter den Autos ist der niedrige weiße Holzzaun zu
sehen, der Henriksens Grundstück umzäunt, und rechts davon beginnt die
mannshohe Buchsbaumhecke von Bluum. Der untere Teil der beiden Häuser scheint
zwischen verschiedenen Bäumen und Büschen am oberen Rand des Bildes durch.
    Ganz
unten links hat sie das Datum in Weiß aufgeschrieben: 2006-05-05, sowie die
Uhrzeit: 15.35. Es gibt kein natürliches Licht in dem Bild, keinen Sonnenschein,
keine Schatten, alles ist erleuchtet, jedes einzelne Detail tritt mit
unbarmherziger demokratischer Schärfe hervor.
    Ich
setze mich an den Küchentisch, ohne den Blick vom Gemälde zu lösen. Es ist das
vierte oder fünfte Bild mit dem gleichen Motiv, das Winnie gefertigt hat, seit
sie wieder angefangen hat zu malen, alle anderen hat sie verworfen, aber
bisher hatte auch noch keines solch eine selbstverständliche Klarheit wie
dieses hier. Irgendwie ähnelt es Hopper, abgesehen von der abgebremsten Bewegung
des Mädchens. Ich habe die Vorahnung, dass sie dieses Bild behalten wird. Sie
hat den
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