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Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Titel: Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Autoren: Ralf Isau
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noch reißende Wildbach war zu einem leise murmelnden Bächlein geworden.
    »Was sagst du jetzt, mein kleiner, kluger Freund?«, fragte Yomi aus dem Hintergrund.
    »Ich weiß nicht«, murmelte Yonathan. »Ich muss darüber nachdenken.« Zielstrebig schritt er auf die Stelle zu, an der das Flussbett im Nichts endete. Yomi folgte.
    Dann standen sie an einer Felskante, die den Blick in eine schmale, aber Schwindel erregend tiefe Klamm freigab. Noch immer heulte der Wind in der Kluft. Doch jetzt tröpfelten nur kleine Wassermengen hinunter, die den Grund des bleigrauen Schlundes wohl kaum erreichten.
    Yonathan hatte eine Idee.
    »Ich glaube, ich weiß jetzt, wer das Wasser des Baches gestohlen hat«, verkündete er.
    »So? Na, da bin ich aber unheimlich gespannt.«
    »Komm mit!«
    Als die beiden Freunde sich wieder ein Stück von der ungemütlich feuchten Stelle zurückgezogen hatten, erklärteYonathan: »Überleg doch mal, Yo. Wodurch wird das Tor im Süden bewacht?«
    »Durch die Sonne«, erwiderte Yomi achselzuckend. »Sie wird von den Felswänden zurückgeworfen und verwandelt das herauslaufende Wasser in Dampf. Niemand kommt durch, ohne wie ein Aal gekocht zu werden.«
    »Und in der Nacht?«
    »Sobald die Sonne weg ist, friert das Loch in der Felswand zu. Kein Wasser – aber auch kein Mensch! – kommt mehr durch… Du meinst…?«
    »Genau. Das Wasser fließt zur anderen Seite, nämlich hier den Berg hinab und wahrscheinlich irgendwo da unten in den Golf von Cedan.«
    »Jetzt wird mir einiges klar. Deshalb kam mir das plötzliche Anschwellen des Baches gestern Nacht so seltsam vor. Tagsüber plätschert er ziemlich unauffällig dahin, aber des Nachts wird aus ihm ein unheimlich reißendes Gewässer.«
    »Ich denke, so muss es sein! Genau dort hinunter führt uns unser Weg.« Yonathan deutete mit dem Daumen über die Schulter, dorthin, wo sich das Bächlein in immer neuen Anläufen in die Klamm hinabstürzte, ohne je den Grund zu erreichen.
    »Wir müssen also wieder mal klettern«, stellte Yomi erfreut fest.
    Yonathan lächelte säuerlich, während Bilder von glitschigen Felsvorsprüngen und unberechenbaren Windböen an ihm vorbeizogen. »Ich freue mich, dass du es so leicht nimmst.«
    Der Abstieg war beinahe ebenso schwierig wie der Gang überdas Gletschereis tags zuvor. Über einen schmalen Grat, den Yomi nach einigem Suchen entdeckt hatte, gelangten die beiden Gefährten in die Klamm. Graue, feuchte Gesteinsbrocken, von denen man nie wusste, ob sie nachgeben würden, bildeten die Stiege, an der Yonathan und Yomi talwärts kletterten. Hier und da schmiegten sich dicke Mooskissen in Furchen und Mulden. Nach ungefähr einer Stunde zeigten sich erste kleine, krumme Bäumchen, die sich an fast senkrechten Wänden festkrallten und ihre Blätter und Nadeln von dem stetigen Sprühwasser des herabstürzenden Baches benetzen ließen.
    Was den Pflanzen das Leben ermöglichte, war für die Kletterer eine Qual. Bald waren sie durchnässt bis auf die Haut. Zum Glück hatte der Morgen die schneidende Kälte der Nacht vertrieben und mit jedem Schritt abwärts stiegen die Temperaturen.
    Endlich wurde das Gelände flacher. Bald konnten die Freunde beim Hinabsteigen auf die Hilfe der Hände verzichten. Yonathan zog Haschevet wieder aus dem Walhautfutteral, in dem er ihn während der Klettertour verwahrt hatte. Er konnte nichts Verkehrtes dabei finden, das geachtete Amtszeichen der Richter Neschans als Wanderstab zu benutzen. Die hakenförmige Adlernase an Haschevets goldenem Knauf diente ihm als praktische Kletterhilfe, die sich wunderbar in Ritzen und Spalten festhaken ließ. Wundersamerweise litt weder das Holz noch das blank polierte Edelmetall unter all diesen Beanspruchungen.
    »Ich glaube, jetzt haben wir das Schlimmste überstanden«, meinte Yomi, die Arme in die Hüften gestemmt und den Blick zurück gerichtet.
    »Ja, kaum zu glauben, dass wir da heruntergekommen sind.«
    »Ich bin gespannt, was uns als Nächstes erwartet. Willst du eine Pause einlegen?«
    Yonathan schaute nach Süden, wo die Wände der Klamm weit zurücktraten. »Nein, lass uns noch ein Stück gehen.«
    Während die beiden sich ihren Weg über ein mit riesigen Trümmern übersätes Geröllfeld suchten, gesellte sich ihnen ein kleiner Wasserlauf zu. Anfangs war es nur ein Rinnsal, aber allmählich wuchs das schmale Wasserband wieder zu jenem kräftigen Wildwasser an, dessen Verschwinden ihnen oben auf der Hochebene so viel Kopfzerbrechen bereitet
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