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Nebel über dem Fluss

Nebel über dem Fluss

Titel: Nebel über dem Fluss
Autoren: dtv
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mir gelungen, Sie davon zu überzeugen   …
     
    Liebe Lynn,
    ich hoffe, dieser Brief von jemandem, der im Moment noch ein völlig Fremder für Sie ist   …
     
    In der untersten Schublade, unter den Briefen, lag ein Antragsformular der Open University für das Fachmodul Naturwissenschaften, ausgefüllt, aber nie abgeschickt. Es gab amtliche Karten von Norfolk und Lincolnshire, auf denen einzelne Orte mit blauschwarzem Kugelschreiber gekennzeichnet, andere rot eingekreist waren; eine zerknitterte, sichtlich häufig benutzte ›Little Chef‹-Autokarte für 1993.   In einem Umschlag fanden sich mit Blitzlicht im Inneren eines Hauses aufgenommene Farbfotos von einer Frau, in deren erschrockenen Augen der Widerschein des Blitzes flammte.
    »Hat jemand eine Ahnung?«, fragte Divine, die Bilder in die Höhe haltend.
    »Susan Rogel, wenn du mich fragst«, sagte Millington. »Wenn wir sicher sein wollen, lassen wir am besten die Siddons herkommen. Und du rufst inzwischen den Chef an und sorgst dafür, dass Kopien von diesen Karten rübergefaxt werden. Ich hoffe nur, wir finden noch rechtzeitig den richtigen Ort.«
     
    Irgendwo, ziemlich weit entfernt, bellte ein Hund. Immer derselbe Ton, so schien es Lynn, ununterbrochen. Zuvor hatte sie Michael singen hören, dann waren ganz in der Nähe Hammerschläge erklungen, höchstens zehn Minuten lang, dann war es still geworden. Sie hatte einen unheimlichen Druck auf der Blase. Sie betete nur noch, dass sie endlich die Geräusche näherkommender Autos hören würde. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und Michael kam herein.
    Er trug ein weißes Hemd, eine alte Cordhose, Stiefel an den Füßen. »Lass mich die nur schnell ausziehen. Ist ja nicht nötig, alles zu verdrecken.« Er stellte den Eimer ab, den er mitgebracht hatte, zog zuerst den einen Stiefel aus, dann den anderen und ließ beide draußen vor der Tür.
    »Es hat aufgehört zu regnen«, sagte er. »Wird ein schöner Tag.« Mit dem Eimer näherte er sich ihr, kramte einen kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche. »Wenn ich dir so weit vertraue, dass ich dich das selber erledigen lasse, machst du mir doch keine Dummheiten, oder?«
    Lynn sah ihn an, ohne zu antworten.
    Michael trat hinter sie und ließ sich auf ein Knie hinunter. »Du willst doch nicht mich alles machen lassen. Du bist schließlich kein Baby.« Eine der Handschellen schlug hinten an ihr Bein, als er sie aufsperrte. »Zieh einfach die Jeans aus, dann stell ich dir den Eimer drunter.«
    »Wollen Sie mir dabei zusehen?«
    »Warum nicht? Es ist doch was ganz Natürliches.«
    Lynn schüttelte in plötzlichem Zorn die gefesselte Hand, dass die Kette klirrte. »Natürlich? Das hier? Was zum Teufel ist daran natürlich?«
    »So unbeherrscht.« Michael, der sich wieder aufgerichtet hatte, lächelte. »Du weißt doch, was ich von Unbeherrschtheit halte.«
    »Schon gut«, sagte Lynn mit gesenktem Kopf. »Schon gut.«
    Mit der freien Hand schob sie die Jeans bis zu den Knien hinunter. Im Moment, als sie sich setzte, strömte, genau wie sie vorhergesehen hatte, der Urin in einem Schwall aus ihr heraus und spritzte von der Eimerwand an die Unterseite ihrer Schenkel.
    »Na also«, sagte er wenig später, als er den Eimer wegnahm. »Und was haben wir hier?« Aus seiner Hosentasche zog er mehrere zusammengelegte Blätter Toilettenpapier. »Willst du oder soll ich?«
    Sie starrte ihn unverwandt an, während sie sich abtupfte und das feuchte Papier in den Eimer warf, den er ihr hinhielt.
    »Und jetzt«, sagte er, als er ihr die Fessel wieder um das Handgelenk legte, »willst du bestimmt etwas zu trinken?«
    Mit der freien Hand ergriff sie die seine, aber er riss sich sofort los. Sie wartete, bis er fast an der Tür war. »Ich habe Sie heute Morgen beobachtet«, sagte sie. »Wie Sie mich beobachtet haben.«
    Er blieb stehen, und sie glaubte, er würde sich jetzt wütend umdrehen, sie vielleicht sogar schlagen, aber stattdessen ging er weiter, zur Tür hinaus, und bald hörte sie ihn wieder draußen vor dem Wohnwagen umhergehen, wobei er abwechselnd pfiff oder sang, immer dieselbe kurze Melodie.

53
    Als Michelle mit der quengelnden Natalie auf dem Arm endlich aus der Unfallstation herauskam, war die Hälfte des Vormittags um. Karls Hand hatte mit neun Stichen genäht werden müssen und war jetzt fest verbunden. Zum Glück, hatte der Arzt gesagt, hatte keine der Sehnen etwasabbekommen. Die Schwester hatte bei der Prüfung der Krankenunterlagen festgestellt, dass dies
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