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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele
Autoren: Britta Strauß
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begreifen.“
    „Aber was ist das Geheimnis? Wie fühle ich mich richtig?“
    „Wenn man versteht, wann es Zeit ist, voranzugehen. Und wann es besser ist, zu warten.“ Nathaniel genoss die Verwirrung, die seine Worte auslösten. „Wenn du den Rhythmus des Lebens verstehst und mit ihm fließt, wenn du den Wandel der Dingeakzeptierst, dann fühlst du dich richtig. Das Große Mysterium ist in allem. In dir, in mir, in jedem Tier, jedem Stein, jeder Pflanze. In allem. Nichts endet, alles verändert sich nur. Und wir sind Teile einer großen Einheit. Keine Herrscher, die die Gesetze des Lebens bestimmen. Das, woran du glaubst, ist erbärmlich. Es frisst dich auf, weil deine Seele nicht weiß, wo sie sich ausruhen soll.“
    Hazlewood entließ stoßweise Luft aus seinen Lungen. Ruhelosigkeit entströmte ihm, die sich bald in Verzweiflung auflösen würde. Der Moment, in dem er begriff, welche Irrwege er beschritten hatte, würde der Furchtbarste seines Lebens werden. Nathaniel hatte es oft erlebt. Viele überlebten diese Erkenntnis nicht, andere verloren den Verstand. Seltsamerweise waren es nur wenige, die die gefundene Antwort nutzten, ihr Leben zu ändern.
    „Erzähl mir von den alten Zeiten“, bat Hazlewood. „Erzähle mir, wie es war, bevor sich alles veränderte.“
    „Weil du hoffst, darin etwas zu finden, was dir hilft?“ Nathaniel lehnte den Kopf gegen die Wand. Eine meditative Ruhe durchfloss ihn, genährt von der Gewissheit, dass er siegen würde. „Dann musst du zuerst den Menschen vergessen, der du jetzt bist.“
    „Ich will es versuchen.“ Hazlewood setzte sich auf den Boden, nach wie vor Nathaniels Blick ausweichend, und verschränkte die Arme in seinem Schoß. „Aber denke daran, dass jede deiner Bewegungen verfolgt wird. Tu etwas Dummes, und sie wird leiden.“
    „Nicht ich bin es, der Dummes tut.“ Nathaniel neigte entspannt den Kopf. Der Fluss des Lebens schlug eine andere Richtung ein, und er war mehr als bereit, ihm zu folgen. „Aber trotzdem will ich dir heute einen Gefallen tun.“
    Behäbig rauschte der Wagen durch die Stadt. Auch hier verfolgte eine winzige Kamera, angebracht am Rückspiegel, jede Regung. Nathaniel war nach wie vor von Zuversicht erfüllt. Das Mysterium würde ihn leiten. Ein Zeichen schicken, eine Offenbarung, eine Gelegenheit. Er fühlte eine tiefe, von den Geistern geschickte Gewissheit, dass sich heute sein Schicksal entscheiden würde.
    Der Wagen verließ die bevölkerte Innenstadt und erreichte eine ruhigere Gegend der Stadt, in der altehrwürdige Villen im Schatten mächtiger Platanen ruhten. Eine Nervosität stieg in Nathaniel auf, die nichts mit Angst zu tun hatte, denn jede Anwandlung dieser Emotion verdrängte er entschlossen. Zunächst war ihm nicht klar, worauf sich diese Empfindung richtete, doch als der Wagen vor einem schmiedeeisernen Tor hielt und sein Blick zur dahinterliegenden Villa glitt, überfiel ihn die Erkenntnis in einer heißkalten Schockwelle. Kam sie von ihm selbst? Oder war es Absá, die endlich beschlossen hatte, einzuschreiten. Wie auch immer, er wusste, dass Josephine dort war. Er spürte sie. Sie deutlich, als säße sie neben ihm.
    Der apricotfarbene Putz des Hauses bröckelte. Es war von den auf ihm lastenden Jahrzehnten in eine Aura verfallender Pracht gehüllt worden. Gewaltige Platanen warfen ihre Schatten auf das von Gauben und Türmchen verzierte Dach, steinerne Löwen bewachten eine breite Steintreppe, die zur Terrasse führte. Nur zwei der zahlreichen Fenster waren vergittert. Eines war klein und befand sich nahe dem Eingangsportal, das andere lag halb versteckt hinter dem Laub eines Baumes. Nathaniel erkannte es sofort. Diese eisernen Weinranken und den kleinen Balkon, dessen Geländer aus sanduhrförmigen Säulen bestand, hatte er flüchtig auf den Kameraaufnahmen gesehen.
    Seine Gedanken begannen, fieberhaft zu arbeiten. Was immer er tat, man würde es sehen und Josephine dafür bezahlen lassen. Wie viel Zeit blieb ihm? War sie allein oder kontrollierte man das Geschehen von ihrem Zimmer aus? Binnen Sekundenbruchteilen berechnete sein Gehirn den schnellsten Weg hinauf zum Balkon. Das Tor zu überwinden würde ein Leichtes sein. Nur wenige Augenblicke, und er wäre beim Haus. Die Struktur der Wand erlaubte jedem, der über das nötige Geschick verfügte, ein schnelles Hinaufkommen. Es gab zahlreiche Nischen, Vorsprünge und Efeuranken, an denen er sich hinaufziehen konnte. Zwei Sekunden, um das Gitter samt dem Fenster zu
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