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Nackt

Nackt

Titel: Nackt
Autoren: David Sedaris
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North Carolina, transferiert worden. Das war das Wort, welches die Leute bei IBM verwendeten, transferiert. Ein neues Haus wurde gebaut, aber bis es fertig war, mussten wir uns mit einem Mietobjekt begnügen, welches einem Plantagengebäude ähneln sollte. Das Gebäude stand in einem baumlosen, schütter werdenden Garten und seine weißen Säulen versprachen eine Majestät, welche das Interieur nicht einzulösen verstand. Die Haustür öffnete sich auf einen dunklen, engen Flur, welcher von Schlafzimmern gesäumt wurde, die nicht viel geräumiger waren als die Matratzen, die zu ihrer Möblierung dienten. Unsere Küche befand sich im ersten Stock, neben dem Wohnzimmer, dessen Panoramafenster Aussicht auf eine Mauer aus Schlacke ziegeln bot, erbaut, um die Schlammflut zurückzuhalten, die vom benachbarten Dreckhügel ausging.
    «Unser kleiner Höllenwinkel», sagte meine Mutter und fächelte sich mit einer der Schindeln, die unseren Vordergarten verunreinigten, Luft zu.
    So deprimierend es auch sein mochte –, wenn ich bei der ersten Stufe zu unserem Haus angekommen war, hieß das, dass ich die erste Hälfte des Weges in mein Schlafzimmer geschafft hatte. Zu Hause berührte ich die Haustür mit jedem Ellbogen siebenmal, eine Aufgabe, die erschwert wurde, wenn noch jemand dabei war. «Versuch’s doch mal mit der Türklinke», sagte meine Schwester Lisa. «Das tun wir auch und bei uns scheint’s zu wirken.» Im Haus wollten Lichtschalter und Türstopper befriedigt sein. Mein Schlafzimmer lag genau am Flur, aber erst hatte ich noch zu tun. Nachdem ich die vierte, achte und zwölfte mit Auslegware bezogene Stufe geküsst hatte, wischte ich mir die Katzenhaare von den Lippen, und weiter ging es in die Küche, wo ich Befehl hatte, die Brenner des Gasherds zu streicheln, die Nase gegen die Kühlschranktür zu drücken und Kaffeemaschine, Toaster und Mixer in einer Reihe auszurichten. Nachdem ich meine Runden durch das Wohnzimmer gemacht hatte, war es Zeit, sich neben das Geländer zu knien und blind ein Buttermesser in Richtung meiner Lieblingssteckdose zu werfen. Es gab Glühbirnen zu lecken und Badezimmerwasserhähne zu überprüfen, bevor ich endlich frei war, mein Schlafzimmer zu betreten, wo ich die Gegenstände auf meiner Kommode sorgfältig auf Linie brachte, die Ecken meines Metallschreibtischs ableckte, mich aufs Bett legte, auf und ab wackelte und darüber nachdachte, was für eine seltsame Frau die Lehrerin meiner dritten Klasse, Miss Chestnut, doch war. Warum wollte sie hierherkommen und an meinen Lichtschaltern lecken, wenn sie nie ihren eigenen nutzte? Vielleicht war sie betrunken.
    In ihrem Brief hatte sie angefragt, ob sie zu uns nach Hause kommen kann, um sich über meine, wie sie sie nannte, «speziellen Probleme» zu unterhalten. «Bist du von deinem Platz aufgestanden, um den Lichtschalter abzulecken?», fragte meine Mutter. Sie legte den Brief auf den Tisch und steckte sich eine Zigarette an.
    «Ein-, zweimal», sagte ich.
    «Ein-, zweimal wie? Jede halbe Stunde? Alle zehn Minuten?»
    «Ich weiß nicht», log ich. «Wer zählt bei so was schon mit?»
    «Deine gottverdammte Mathe-Lehrerin zum Beispiel. Das ist ihr Job, das Zählen. Glaubst du etwa, sie merkt so was nicht?»
    «Merkt was nicht?» Ich bin immer wieder verblüfft, dass die Leute tatsächlich so was bemerken. Weil meine Aktionen so immens privat waren, hatte ich immer angenommen, sie wären auch irgendwie unsichtbar. In die Enge getrieben, behauptete ich, der Zeuge habe sich geirrt.
    «Was meinst du mit ‹merkt was nicht?›!? Heute Nachmittag hat mich die Dame, die hier in der Straße wohnt, diese Mrs. Keening, die mit den Zwillingen, angerufen. Sie sagt, sie hat dich in ihrem Vorgarten erwischt, auf Händen und Knien, wie du die Spätausgabe ihrer Zeitung geküsst hast.»
    «Ich habe sie nicht geküsst. Ich habe nur versucht, die Schlagzeile zu lesen.»
    «Und da musstest du so nah rangehen? Vielleicht sollten wir dir eine stärkere Brille besorgen.»
    «Ja, das sollten wir vielleicht», sagte ich.
    «Und vermutlich hat sich diese Miss …» Meine Mutter entfaltete den Brief und studierte die Unterschrift. «… diese Miss Chestnut ebenfalls geirrt? Ist es das, was du mir zu sagen versuchst? Vielleicht hat sie dich mit dem anderen Jungen verwechselt, der auch immer von seinem Platz aufsteht, um den Bleistiftanspitzer abzulecken oder die Fahne anzufassen oder was zum Teufel du sonst treibst, sobald sie dir den Rücken kehrt?»
    «Sehr gut
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