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Nackt

Nackt

Titel: Nackt
Autoren: David Sedaris
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möglich», sagte ich. «Sie ist alt. Sie hat Flecken auf den Händen.»
    «Wie viele?», fragte meine Mutter.
    An jenem Nachmittag, an welchem Miss Chestnut zu Besuch kam, war ich in meinem Schlafzimmer und wackelte. Im Gegensatz zum zwanghaften Zählen und Berühren war Wackeln keine Pflicht-, sondern eine freiwillige und höchst angenehme Übung. Es war mein Hobby und es gab nichts, was ich lieber getan hätte. Es ging nicht darum, sich in den Schlaf zu wackeln: Dies war kein Schritt in Richtung auf ein höheres Ziel. Es war das Ziel selbst. Die andauernde Bewegung machte mir den Kopf frei, sodass ich mir alles Mögliche durch denselben gehen lassen und schwerstdetaillierte Phantasien entwickeln konnte. Noch ein Radio dazu und ich wackelte hochzufrieden bis drei oder vier Uhr morgens, lauschte der Hitparade und entdeckte, dass es in jedem einzelnen Lied um mich ging. Selbst wenn ich mir dasselbe Lied zwei- bis dreihundertmal anhören musste –, früher oder später entbarg sich seine geheime Botschaft. Weil es angenehm und entspannend war, musste mein Wackeln irgendwann ins Stolpern geraten, meistens weil mein Gehirn ihm ein Bein gestellt hatte, da mein Gehirn mir nicht mehr als zehn zusammenhängende Minuten Glück gestattete. Während der Anfangsakkorde meines jeweiligen Lieblingslieds flüsterte eine Stimme: Müsstest du jetzt nicht eigentlich oben in der Küche sein und überprüfen, ob tatsächlich noch hundertvierzehn Pfefferkörner in dem kleinen Keramiktopf sind? Und, he, wenn du sowieso oben bist, kannst du auch gleich noch feststellen, ob das Bügeleisen abge schaltet ist, damit das Zimmer mit dem Baby nicht in Flammen aufgeht. Die Liste mit Forderungen wurde ganz schnell immer länger. Was ist mit der Zimmerantenne auf dem Fernseher? Bildet sie immer noch ein perfektes V, oder hat eine deiner Schwestern ihre Unversehrtheit zerstört? Weißt du, ich frage mich gerade, wie fest der Deckel vom Mayonnaisenglas zugeschraubt ist. Sehen wir doch einfach mal nach, oder?
    Ich war ganz kurz davor, mich richtig wohl zu fühlen, so nah dran, den komplexen Code des Liedes zu knacken und schon kamen mir meine Gedanken dazwischen. Der Trick bestand darin, den rechten Augenblick abzupassen, bis die Platte nicht mehr meine Lieblingsplatte war, zu warten, bis sie vom ersten Platz auf der Hitliste gerutscht war, und mir einzureden, sie sei mir wurscht.
    Ich war gerade dabei, mich mit «The Shadow of Your Smile» gütlich zu einigen, als Miss Chestnut eintraf. Sie klingelte, ich öffnete meine Schlafzimmertür einen Spalt weit und beobachtete, wie meine Mutter sie hereinbat.
    «Sie müssen diese Kartons entschuldigen.» Meine Mutter schnickte ihre Zigarette vor die Tür in den unratstarrenden Vorgarten. «Es ist nur Mist drin, in jedem Einzelnen, aber Gott behüte, dass wir irgendwas wegschmeißen. O nein, völlig unmöglich! Mein Mann hat alles aufbewahrt: sämtliche hinterletzten Rabattmarken und Coupons, Badehosen, aus denen jeder herausgewachsen ist und Linoleumschnipsel, zusammen mit Steinen und knorrigen Stöcken, die, schwört er, seinem alten Abteilungsleiter oder Stellvertretenden Bereichswart oder sonstwas Gottverdammtem zum Verwechseln ähnlich sehen.» Sie wischte sich mit einem Stück Küchenrolle den Schweiß von der Stirn. «Na egal, zur Hölle damit. Sie sehen aus, als könnte ich einen Drink gebrauchen; geht Scotch in Ordnung?»
    Miss Chestnuts Augen erhellten sich. «Eigentlich ja wirklich nicht, aber, naja, was soll’s?» Sie folgte meiner Mutter die Treppe hinauf. «Nur ein Tröpfchen mit Eis, ohne Wasser.»
    Ich versuchte, im Bett zu wackeln, aber das Geräusch von Gelächter zog mich auf den Treppenabsatz, wo ich von meinem günstigen Aussichtspunkt hinter einem übergroßen Kleiderschrank aus die beiden Frauen beobachtete, wie sie mein Verhalten besprachen.
    «Ach, Sie meinen das Anfassen», sagte meine Mutter. Sie studierte den Aschenbecher, der vor ihr auf dem Tisch stand, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, wie bei einer Katze, die eines Eichhörnchens ansichtig wird. Der Anblick fixierter Konzentration, den sie bot, legte nahe, dass nichts anderes von Belang war. Die Zeit war stehengeblieben und sie war taub gegenüber dem leisen Knattern des Ventilators und dem Gezanke meiner Schwestern draußen in der Einfahrt. Sie öffnete den Mund nur so weit, dass sie die Zunge über die Oberlippe gleiten lassen konnte, dann beugte sie sich vor und ihr Zeigefinger piekte den Aschenbecher, als wäre
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