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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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geantwortet.
    Das o , das sie überraschend wie ein u aussprach, die ansteigende, seltsam gepreßte Helligkeit des ê und das weiche sch am Ende fügten sich für ihn zu einer Melodie, die viel länger klang, als sie wirklich war, und die er am liebsten den ganzen Tag lang gehört hätte.
    »Warten Sie«, sagte er jetzt, holte sein Notizbuch aus der Jacke und riß ein Blatt heraus: »Für die Nummer.«
    Er hatte schon die Hand auf der Klinke, da bat er sie, das Wort von vorhin noch einmal zu sagen. Sie wiederholte es, und da sah er sie zum erstenmal lächeln.
    Das Schwatzen brach schlagartig ab, als sie das Klassenzimmer betraten. Eine Stille, die ein einziges Staunen war, füllte den Raum. Gregorius erinnerte sich später genau: Er hatte diese überraschte Stille, diese sprachlose Ungläubigkeit, die aus jedem einzelnen Gesicht sprach, genossen, und er hatte auch seine Freude darüber genossen, daß es ihm möglich war, auf eine Weise zu empfinden, die er sich nicht zugetraut hätte.
    Was ist denn jetzt los? Die Frage sprach aus jedem einzelnen der gut zwanzig Blicke, die auf das sonderbare Paar an der Tür fielen, auf Mundus, der mit nasser Glatze und regendunklem Mantel neben einer notdürftig gekämmten Frau mit bleichem Gesicht stand.
    »Vielleicht dort?« sagte Gregorius zu der Frau und deutete auf den leeren Stuhl hinten in der Ecke. Dann ging er nach vorn, grüßte wie gewohnt und setzte sich hinters Pult. Er hatte keine Ahnung, was er zur Erklärung hätte sagen können, und so ließ er einfach den Text übersetzen, an dem sie gerade arbeiteten. Die Übersetzungen kamen zögernd, und er fing manch neugierigen Blick auf. Auch verwirrte Blicke gab es, denn er – er, Mundus, der jeden Fehler noch im Schlaf erkannte – ließ reihenweise Fehler, Halbheiten und Unbeholfenheiten durchgehen.
    Es gelang ihm zu tun, als blickte er nicht zu der Frau hinüber. Und doch sah er sie in jeder Sekunde, er sah die feuchten Strähnen, die sie aus dem Gesicht strich, die weißen Hände, die sich ineinander krampften, den abwesenden, verlorenen Blick, der zum Fenster hinausging. Einmal holte sie den Stift hervor und schrieb die Telefonnummer auf den Zettel. Dann lehnte sie sich wieder zurück und schien kaum mehr zu wissen, wo sie war.
    Es war eine unmögliche Situation, und Gregorius schielte auf die Uhr: noch zehn Minuten bis zur Pause. Da erhob sich die Frau und ging leise zur Tür. Im Türspalt drehte sie sich zu ihm um und legte den Finger an die Lippen. Er nickte, und lächelnd wiederholte sie die Geste. Dann fiel die Tür mit einem leisen Schnappen ins Schloß.
    Von diesem Augenblick an hörte Gregorius nichts mehr von dem, was die Schüler sagten. Ihm war, als sei er ganz allein und von einer betäubenden Stille umschlossen. Irgendwann stand er am Fenster und folgte der roten Frauengestalt mit dem Blick, bis sie um die Häuserecke verschwunden war. Er spürte, wie die Anstrengung in ihm nachhallte, die es ihn gekostet hatte, ihr nicht nachzulaufen. Immer wieder sah er den Finger an ihren Lippen, der so vieles bedeuten konnte: Ich will nicht stören , und: Es bleibt unser Geheimnis , aber auch: Lassen Sie mich jetzt gehen, es kann keine Fortsetzung geben .
    Als es zur Pause klingelte, blieb er am Fenster stehen. Hinter ihm gingen die Schüler ungewohnt leise aus dem Zimmer. Später ging auch er hinaus, verließ das Gebäude durch den Hintereingang und setzte sich auf der anderen Straßenseite in die Landesbibliothek, wo ihn niemand suchen würde.
    Zum zweiten Teil der Doppelstunde war er pünktlich wie immer. Er hatte die Zahlen von der Stirn gerieben, sie nach einer Minute des Zögerns im Notizbuch festgehalten und dann den schmalen Kranz von grauem Haar getrocknet. Nur die feuchten Flecke auf Jacke und Hose verrieten noch, daß es etwas Ungewöhnliches gegeben hatte. Jetzt nahm er den Stoß durchnäßter Hefte aus der Aktentasche.
    »Ein Malheur«, sagte er knapp. »Ich bin gestolpert, und da sind sie herausgerutscht, in den Regen. Die Korrekturen dürften trotzdem noch lesbar sein; sonst müßt ihr mit Konjekturen arbeiten.«
    So kannten sie ihn, und hörbare Erleichterung ging durch den Raum. Ab und zu noch fing er einen neugierigen Blick auf, und auch ein Rest von Scheu war bei einigen in der Stimme. Sonst war alles wie früher. Er schrieb die häufigsten Fehler an die Tafel. Dann ließ er die Schüler still für sich arbeiten.
    Konnte man, was in der nächsten Viertelstunde mit ihm geschah, eine Entscheidung
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