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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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erstenmal betreten, schwankend zwischen Vorfreude und Beklommenheit. Vier Jahre später hatte er es mit dem Maturitätszeugnis in der Hand verlassen, nur um weitere vier Jahre später wiederzukommen als Vertreter für den verunglückten Griechischlehrer, der ihm seinerzeit die antike Welt aufgeschlossen hatte. Aus dem studierenden Vertreter war ein immer weiterstudierender Dauervertreter geworden, der bereits dreiunddreißig war, als er schließlich sein Universitätsexamen machte.
    Gemacht hatte er es nur, weil Florence, seine Frau, darauf gedrängt hatte. An eine Promotion hatte er nie gedacht; wenn man ihn danach fragte, lachte er nur. Auf solche Dinge kam es nicht an. Worauf es ankam, war etwas ganz Einfaches: die alten Texte bis in jede Einzelheit, in jedes grammatische und stilistische Detail hinein zu kennen und zu wissen, was die Geschichte eines jeden Ausdrucks gewesen war. Mit anderen Worten: gut zu sein. Das war nicht Bescheidenheit – im Anspruch an sich selbst war er ganz und gar unbescheiden. Auch war es nicht Verschrobenheit oder eine verdrehte Art von Eitelkeit. Es war, hatte er später manchmal gedacht, eine stille Wut gewesen, die sich gegen eine wichtigtuerische Welt gerichtet hatte, ein unbeugsamer Trotz, mit dem er sich an der Welt der Angeber hatte rächen wollen, unter der sein Vater ein Leben lang gelitten hatte, weil er es nur zum Museumswärter gebracht hatte. Daß die anderen, die viel weniger konnten als er – lachhaft wenig, um die Wahrheit zu sagen –, Examen machten und eine feste Stellung bekamen: Es war, als gehörten sie zu einer anderen, einer unerträglich oberflächlichen Welt mit Maßstäben, für die er nur Verachtung übrig hatte. In der Schule wäre man nie auf die Idee gekommen, ihn zu entlassen und durch jemanden mit Examen zu ersetzen. Der Rektor, selbst Altphilologe, wußte, wie gut Gregorius war – viel besser als er selbst –, und er wußte, daß es unter den Schülern einen Aufstand gegeben hätte. Das Examen, als er es schließlich machte, kam Gregorius lächerlich einfach vor, und er gab nach der Hälfte der Zeit ab. Er hatte es Florence stets ein bißchen übelgenommen, daß sie ihn dazu gebracht hatte, seinen Trotz aufzugeben.
    Gregorius wandte sich um und ging langsam in Richtung Kirchenfeldbrücke. Als die Brücke in Sicht kam, hatte er das sonderbare, ebenso beunruhigende wie befreiende Gefühl, daß er im Begriff stand, sein Leben im Alter von siebenundfünfzig Jahren zum erstenmal ganz in die eigenen Hände zu nehmen.

2
     
    An der Stelle, wo die Frau im strömenden Regen den Brief gelesen hatte, blieb er stehen und blickte nach unten. Zum erstenmal wurde ihm klar, wie tief man fallen würde. Hatte sie wirklich springen wollen? Oder war das nur eine voreilige Befürchtung gewesen, die damit zu tun hatte, daß auch der Bruder von Florence von einer Brücke gesprungen war? Außer daß sie Portugiesisch als Muttersprache hatte, wußte er von der Frau nicht das geringste. Nicht einmal ihren Namen kannte er. Natürlich war es unsinnig, den zerknüllten Brief von hier oben erkennen zu wollen. Trotzdem starrte er mit Augen, die vor Anstrengung zu tränen begannen, nach unten. War jener dunkle Punkt sein Schirm? Er faßte in die Jacke und vergewisserte sich, daß er das Notizbuch mit der Nummer, die ihm die namenlose Portugiesin auf die Stirn geschrieben hatte, bei sich trug. Dann ging er bis zum Ende der Brücke, unsicher, wohin er sich danach wenden sollte. Er war dabei, aus seinem bisherigen Leben wegzulaufen. Konnte einer, der das vorhatte, einfach nach Hause gehen?
    Sein Blick fiel auf das Hotel Bellevue, das älteste und vornehmste Hotel der Stadt. Viele tausend Male war er daran vorbeigegangen, ohne es je zu betreten. Jedesmal hatte er gespürt, daß es da war, und es war ihm, dachte er jetzt, auf unbestimmte Weise wichtig gewesen, daß es da war; es hätte ihn verstört zu erfahren, das Haus werde abgerissen oder höre auf, ein Hotel – oder auch nur: dieses Hotel – zu sein. Aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daß er, Mundus, darin etwas zu suchen hätte. Zögerlich ging er jetzt auf den Eingang zu. Ein Bentley hielt, der Chauffeur stieg aus und ging hinein. Als Gregorius ihm folgte, tat er es mit dem Gefühl, etwas ganz und gar Revolutionäres und eigentlich Verbotenes zu tun.
    Das Foyer mit der Kuppel aus farbigem Glas war menschenleer, und der Teppich verschluckte jedes Geräusch. Gregorius war froh, daß der Regen aufgehört hatte und sein
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