Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
nennen? Gregorius sollte sich die Frage später immer wieder stellen, und nie war er sicher. Doch wenn es keine Entscheidung war – was war es dann?
    Es begann damit, daß er die auf ihre Hefte blickenden, nach vorne gebeugten Schüler auf einmal betrachtete, als sähe er sie zum erstenmal.
    Lucien von Graffenried, der beim alljährlichen Schachturnier in der Aula, bei dem Gregorius simultan gegen ein Dutzend Schüler spielte, eine Figur heimlich verrückt hatte. Nach den Zügen an den anderen Brettern hatte Gregorius wieder vor ihm gestanden. Er merkte es sofort. Ruhig sah er ihn an. Flammende Röte überzog Luciens Gesicht. »Das hast du doch nicht nötig«, sagte Gregorius, und dann sorgte er dafür, daß diese Partie Remis ausging.
    Sarah Winter, die morgens um zwei vor seiner Wohnungstür gestanden hatte, weil sie nicht wußte, was sie mit ihrer Schwangerschaft machen sollte. Er hatte Tee gekocht und zugehört, sonst nichts. »Ich bin so froh, daß ich Ihrem Rat gefolgt bin«, sagte sie eine Woche später, »es wäre viel zu früh gewesen für ein Kind.«
    Beatrice Lüscher mit der ebenmäßigen, gestochenen Schrift, die unter der Last ihrer stets perfekten Leistungen erschreckend schnell alt wurde. René Zingg, stets an der untersten Notengrenze.
    Und natürlich Natalie Rubin. Ein Mädchen, das mit seiner Gunst geizte und ein bißchen war wie ein höfisches Fräulein aus vergangenen Jahrhunderten, unnahbar, umschwärmt und gefürchtet wegen ihrer spitzen Zunge. Vergangene Woche war sie nach dem Pausenzeichen aufgestanden, hatte sich gestreckt wie jemand, der sich in seinem Körper wohl fühlt, und hatte ein Bonbon aus der Rocktasche geholt. Auf dem Weg zur Tür packte sie es aus, und als sie an ihm vorbeikam, führte sie es zum Mund. Es hatte gerade die Lippen berührt, da brach sie die Bewegung ab, drehte sich zu ihm, hielt ihm das knallrote Bonbon hin und fragte: »Möchten Sie?« Belustigt über seine Verblüffung hatte sie ihr seltenes, helles Lachen gelacht und dafür gesorgt, daß ihre Hand die seine berührte.
    Gregorius ging sie alle durch. Zuerst kam es ihm vor, als zöge er nur eine Zwischenbilanz seiner Gefühle für sie. In der Mitte der Bankreihen dann merkte er, daß er immer häufiger dachte: Wieviel Leben sie noch vor sich haben; wie offen ihre Zukunft noch ist; was noch alles mit ihnen passieren kann; was sie noch alles erleben können!
    Português . Er hörte die Melodie und sah das Gesicht der Frau, wie es mit geschlossenen Augen hinter dem frottierenden Handtuch aufgetaucht war, weiß wie Alabaster. Ein letztes Mal ließ er den Blick über die Köpfe der Schüler hinweggleiten. Dann erhob er sich langsam, ging zur Tür, wo er den feuchten Mantel vom Haken nahm, und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Zimmer.
    Seine Aktentasche mit den Büchern, die ihn ein Leben lang begleitet hatten, war auf dem Pult zurückgeblieben. Oben an der Treppe hielt er inne und dachte daran, wie er die Bücher alle paar Jahre von neuem zum Binden gebracht hatte, immer in demselben Geschäft, wo man über die abgegriffenen, mürben Seiten lachte, die sich beinahe schon wie Löschpapier anfühlten. Solange die Tasche auf dem Pult lag, würden die Schüler annehmen, er käme wieder. Doch das war nicht der Grund, warum er die Bücher hatte liegenlassen und warum er jetzt der Versuchung widerstand, sie doch noch zu holen. Wenn er jetzt ging, dann mußte er auch von diesen Büchern weggehen. Das spürte er mit großer Klarheit, selbst wenn er in diesem Augenblick, auf dem Weg zum Ausgang, keine Ahnung hatte, was das eigentlich hieß: weggehen.
    In der Eingangshalle fiel sein Blick auf die kleine Pfütze, die sich gebildet hatte, als die Frau mit tropfendem Mantel darauf gewartet hatte, daß er von der Toilette zurückkäme. Sie war die Spur einer Besucherin aus einer anderen, fernen Welt, und Gregorius betrachtete sie mit einer Andacht, wie er sie archäologischen Funden gegenüber zu empfinden pflegte. Erst als er den schlurfenden Schritt des Hausmeisters hörte, riß er sich los und verließ rasch das Gebäude.
    Ohne sich umzudrehen, ging er bis zu einer Häuserecke, von der aus er ungesehen einen Blick zurückwerfen konnte. Mit einer plötzlichen Wucht, die er sich nicht zugetraut hätte, spürte er, wie sehr er dieses Gebäude und alles, wofür es stand, liebte und wie sehr er es vermissen würde. Er rechnete nach: Vor zweiundvierzig Jahren, als fünfzehnjähriger Gymnasiast, hatte er es zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher