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Nachts unter der steinernen Bruecke

Nachts unter der steinernen Bruecke

Titel: Nachts unter der steinernen Bruecke
Autoren: Leo Perutz
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Jetzt aber bin ich in der Wahrheit und in der Ewigkeit, die hat nicht Maß noch Ziel.«
    Die silberne Schale glitt zur Erde nieder, und das Kind wandte sich und wollte zurück zu seinen Gefährten. Da entsann sich Jäckele-Narr des Auftrags, der ihn hierhergeführt hatte. Er hielt das Kind am Saum seines Hemdchens fest und ließ nicht los und rief:
    »Im Namen dessen, der der Ursprung ist und das Ende, beschwöre ich dich: Sag und bekenne, um welcher Sünde willen das große Sterben über diese Stadt gekommen ist.«
    Eine Weile hindurch war Stille, das Kind regte sich nicht und blickte in die Dunkelheit, dorthin, wo über den Gräbern, unsichtbar dem Aug' der Lebendigen, der Engel Gottes stand, der Hüter der Seelen. Dann sagte es:
    »Der Engel Gottes hat gesprochen, der Diener des Herrn hat gesagt: >Es ist geschehen um der Sünde Moabs willen, die eine unter euch begangen hat. Und Er, der Ewige, hat es gesehen, und Er, der Ewige, wird euch vertilgen, wie Er vertilgt hat Moab<.«
    Da ließ Jäckele-Narr den Saum des Hemdchens los. Und das Kind entschwebte, als wäre es vom Wind dahingetrieben, und sein Glanz und sein Leuchten verlor sich hinter den dunkeln Schatten der Holunderbäume.
    Die beiden aber, Jäckele-Narr und Koppel-Bär, verließen den Friedhof und gingen in das Haus des hohen Rabbi und hinterbrachten ihm die Worte, die sie vernommen hatten.
    Als der Morgen graute, schickte der hohe Rabbi seine Boten von Tür zu Tür. Er rief die Gemeinde in das Haus Gottes, und sie kamen in Scharen, Männer und Frauen, und niemand blieb zurück. Und als sie alle versammelt waren, stieg er die drei steinernen Stufen empor, und unter seinem Mantel trug er die weißen Sterbekleider, und über seinem Haupte rauschte die Fahne, auf der geschrieben stand:
    »Der Herr Zebaoth erfüllt mit seiner Herrlichkeit die ganze Welt.«
Da nun ringsum alles still geworden war, begann der hohe Rabbi zu sprechen. Er sagte, daß unter ihnen eine sei, die dahinlebe in der Sünde des Ehebruchs, den Kindern des verfluchten Stammes gleich, den Gott vertilgt hat. Und er rief die Sünderin an, daß sie vortrete und bekenne und die Strafe auf sich nehme, die Gott, der Her, über sie verhängen wollt'.
    Unter den Frauen erhob sich ein Flüstern und Raunen, sie blickten einander voll Schrecken an, aber keine von ihnen trat vor, keine wollte die Sünde Moabs begangen haben.
    Zum zweitenmal erhob der hohe Rabbi seine Stimme. Er sagte und verkündete, daß um dieser verborgenen Sünde willen das große Kindersterben über die Stadt gekommen sei. Und er beschwor die Sünderin bei den heiligen Buchstaben und den zehn furchtbaren Namen Gottes, sie möge hervortreten und bekennen, damit die Not ein Ende hätte.
    Aber wiederum hatte der hohe Rabbi vergeblich gesprochen. Die die Sünde begangen hatte, schwieg und wollt' sich nicht abkehren von ihrem Weg.
    Da kam die finstere Wolke des Zornes über den hohen Rabbi. Er nahm die heiligen Rollen aus ihrem Schrein und sprach die Worte des großen Bannes über die Sünderin, daß sie verdorren möge wie die Felsen von Gilboa, die David verflucht hat. Daß die Erde ihr tun möge, wie sie getan hat dem Datam und dem Abirom. Daß ihre Name ausgelöscht und ihr Geschlecht verflucht sei im Namen der Funkelnden und im Namen der Flammenden und im Namen der strahlenden Lichter und das Z adekiel, der das Ohr ist und das Auge. Und daß ihre Seele hinabsteigen möge in den Schrecken und dort verbleiben bis an das Ende der Zeiten.
    Dann verließ er das Haus Gottes. Und in den Gassen der Judenstadt war Angst und Jammer und Ratlosigkeit und Verzweiflung.
    Als der hohe Rabbi wieder daheim in seiner Kammer saß, kam ihm ein Tag und ein Geschehnis aus den vergangen Jahren in den Sinn. Da waren zwei Metzger vor ihn hingetreten und hatten Klage geführt, sie hätten in dieser Nacht all das Ihrige verloren. Ein Dieb war in ihre Fleischbank eingedrungen und hatte mit ihrem Gut als ein Übeltäter gehaust. Soviel er konnte, hatte er von dem Fleisch mit sich fortgeschleppt, und was übrig geblieben war, das war besudelt.
    Auch damals hatte der hohe Rabbi die Gemeinde zusammengerufen und den Dieb ermahnt, er möge bekennen und den Schaden gutmachen, soweit es in seinen Kräften stehe. Doch da der Dieb schwieg und im Bösen verharrte, hatte der hohe Rabbi den Bann über ihn verhängt, der ihn und sein Geschlecht ausstieß aus der Gemeinschaft der Kinder Gottes.
    In der Nacht darauf aber war ein Hund vor des hohen Rabbi Haus gestanden, der
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