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Nachts unter der steinernen Bruecke

Nachts unter der steinernen Bruecke

Titel: Nachts unter der steinernen Bruecke
Autoren: Leo Perutz
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alt und muß nun auch die kalte Erde kauen.«
»Wenn der Tod zu Markt geht, kauft er alles«, murmelte Koppel-Bär. »Nichts ist ihm zu klein, nichts zu gering.«
Und mit leiser Stimme sagten sie, indes sie weitergingen, die Worte aus dem Psalm des Königs David vor sich hin:
»Nun, da du ruhest im Schatten der Allmacht, kann dir kein Unheil widerfahren. Denn Er gebietet den himmlischen Geistern, und sie werden dich auf deinem Weg geleiten, und sie werden dich auf ihren Händen tragen, daß dir kein Stein an deine Füße stoße.«
Jetzt war es völlig Nacht geworden. Am Himmel stand zwischen dunkeln Regenwolken ein bleicher Mond. So still war es in den Gassen, daß man vom Flusse her das Rauschen des Wassers hörte. Angstlich und voll Scheu, als ob das, was sie zu tun im Sinne hatten, wider Gottes Gebot wär', traten sie durch das enge Tor in den Garten der Toten.
    Er lag im Mondlicht, schweigend und regungslos wie der geheimnisdunkle Strom Sam-Bathjon, dessen Wellen stillestehen am Tage des Herrn. Die weißen und die grauen Steine standen aneinander gelehnt, als ob sie allein die Last ihrer Jahre nicht zu tragen vermöchten. Die Bäume streckten ihre entlaubten Äste wie in verstörter Klage zu den Wolken des Himmels empor.
    Jäckele-Narr ging voran, und Koppel-Bär folgte ihm wie ein Schatten. Sie gingen den schmalen Pfad zwischen den Jasminbüschen und den Holunderbäumen, bis sie zu dem verwitterten Stein des Rabbi Abigdor gelangten. Hier, auf dem Grabe des großen Heiligen, dessen Name ein Licht war in der Finsternis der Verbannung, fand Jäckele-Narr einen platten Mainzer Pfennig und einen Kupferdreier und zwei welsche Heller. Nun ging er weiter, dorthin, wo unter einem Ahornbaum der Grabstein des Rabbi Gedalja stand, des hochberühmten Arztes.
    Plötzlich aber blieb Jäckele-Narr stehen und haschte nach dem Arm seines Gefährten.
»Horch!« flüsterte er. »Wir sind nicht allein. Hörst du nicht ein Huschen und Raunen?«
»Narr!« sagte Koppel-Bär, der gerade einen krummen böhmischen Groschen gefunden und zu sich gesteckt hatte. »Narr! Der Wind treibt die verwelkten Blätter über die Erd'.«
»Koppel-Bär!« flüsterte Jäckele-Narr. »Siehst du nicht dort an der Mauer ein Flimmern und ein Leuchten?«
»Wenn du ein Narr bist«, brummte Koppel-Bär, »so sauf Essig und reit auf Stecken und melk die Ziegenbock', aber mich laß zufrieden. Was du siehst, das sind die weißen Steine, die glänzen im Mondlicht.«
Da aber verschwand mit einemmal der Mond am Himmel hinter dunkeln Wolken, und nun sah Koppel-Bär, daß es nicht die weißen Steine waren, nein, dort hart an der Friedhofsmauer schwebten leuchtende Gestalten in den Lüften, Kinder in langen weißen Hemdchen, die hielten einander an den Händen und wiegten sich im Tanz über den frischen Gräbern. Und über ihnen stand, unsichtbar dem menschlichen Aug', der Engel Gottes, der als Hüter über sie bestellt war.
»Möge Gott sich meiner erbarmen!« stöhnte KoppelBär. »Jäckele-Narr! Siehst du auch, was ich seh'?«
»Gepriesen sei der Schöpfer der Welt, er allein tut Wunder«, flüsterte Jäckele-Narr. »Ich sehe Blümele, das Täubchen, die Unschuld, und die beiden Kinder meines Nachbars, die vor sieben Tagen gestorben sind, seh' ich auch.«
Und nun, da sie erkannten, daß es die andere Welt war, die sich ihren Augen offenbarte, kam das Entsetzen über sie, und sie wandten sich und liefen, sie sprangen über die Steine und stießen an die Äste, sie fielen nieder und rafften sich auf, sie liefen um ihr Leben und blieben nicht stehen, eh' sie nicht wieder draußen auf der Gasse waren
Dort erst blickte sich Jäckele-Narr nach seinem Gefährten um. »Koppel-Bär«, fragte er und die Zähne schlugen ihm aneinander, »lebst du noch und bist du da?«
»Ich lebe und lobpreise meinen Schöpfer«, kam KoppelBärs Stimme aus der Dunkelheit. »Wahrlich, die Hand des Todes ist über mir gewesen.«
Und daran, daß sie beide am Leben geblieben waren, erkannten sie den Willen Gottes, daß sie Zeugnis ablegen sollten von dem, was sie gesehen hatten.
Eine Weile noch standen sie flüsternd im Dunkeln, und dann gingen sie und suchten den verborgenen König in seinem Haus, den hohen Rabbi, der kundig war der Sprache der Toten, der die Stimmen der Tiefe hörte und die furchtbaren Zeichen Gottes zu deuten vermochte.
    Er saß in seiner Kammer über das Buch der Geheimnisse gebeugt, das genannt wird Indraraba oder die große Versammlung. Verloren in die Unermeßlichkeit der
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