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Nachts unter der steinernen Bruecke

Nachts unter der steinernen Bruecke

Titel: Nachts unter der steinernen Bruecke
Autoren: Leo Perutz
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sein Gegner durch die nächtlichen Straßen Prags um sein Leben tanzen muß. Der zu Tode erschöpfte Graf wendet sich um Hilfe an den hohen Rabbi Loew, dieser möge ein Jesusbild erscheinen lassen, damit die katholischen Diener des Rarons eine Andachtpause einlegen und ihn zu Atem kommen lassen. Der Rabbi läßt auf einer Mauer »aus Mondlicht und Moder, aus Ruß und Regen, aus Moos und Mörtel ein Bild entstehen«, das den Ecce Homo zeigt. Dieses Bild besitzt eine derartige Kraft, »daß der Baron mit seinem steinernen Herzen von einem Blitzschlag des Selbsterkennens getroffen wurde und als erster in die Knie sank. Und vor diesem >Ecce Homo< klagte er sich an, daß er in dieser Nacht ohne Erbarmen und ohne die Furcht Gottes war.«
    Es war aber nicht Christus, den das aus dem Staub der Geschichte geformte Bild zeigte. Es »war nicht der Heiland, nicht der Gottessohn, auch nicht der Sohn des Zimmermanns, der aus dem galiläischen Gebirge in die heilige Stadt gekommen war, um das Volk zu lehren und für seine Lehre den Tod zu erleiden«, nein, es war, wie der Nachhilfelehrer seinem Schüler erläutert, »das Judentum, das durch die Jahrhunderte hindurch verfolgte und verhöhnte Judentum, das auf diesem Bild seine Leiden offenbart hat«. Der Rabbi hat in der Ikonographie des Christentums die Leiden des Judentums offenbart: es ist ein mystisches Bild, in dem die Geschichte und der Streit um den wahren Glauben stillgestellt sind. Leo Perutz war kein Mystiker, und so nimmt das Bild des Rabbi, das durch seine Darstellung jüdischen Leidens zwei selbstvergessene Christen zur Einkehr bewegt, in seinem Roman ebensosehr eine Sonderstellung ein wie die Novelle »Sarabande«, in der allein es erscheint.
    Daß Christen durch die Offenbarung jüdischen Leidens im Bild des Ecce Homo aus ihrer Selbstvergessenheit erlöst und gerettet werden könnten — das war im Jahre 1945, als die Vernichtung der Juden durch die Deutschen in Europa einen Höhepunkt erreichte, ein sehr kühnes literarisches Bild. Die Novelle »Sarabande«, die er 1943 schrieb, konnte, so vermerkte Perutz in seinem Notizbuch dieses Jahres, nicht früher entstehen — »das persönliche Erlebnis hätte gefehlt«.
    Die nicht mystische Funktion der Kunst ist die Verwandlung von Unbedeutendem in Bedeutendes, von Ungedeutetem in Gedeutetes. In der Schneiderwerkstatt des Malers Brabanzio fällt der Blick des Kaisers auf ein Aquarell des Künstlers:
    Es stellte eben jenes Gärtchen vor, durch das der Kaiser kurz zuvor gegangen war, ohne ihm einen Blick zu schenken. Nicht viel anderes war auf dem Bild zu sehen als ein Schlehendombusch und ein entlaubter Baum mit dünnem Geäste, eine Schneepfütze und die Latten eines Zauns, aber über all dem lag ein Zauber, der mit Worten nicht auszudrücken war,
- winterliche Schwermut und Vorahnung des Frühlings oder vielleicht auch nur jene Anmut, die bisweilen der Armseligkeit und der Unscheinbarkeit zu eigen ist.
    Der Maler Brabanzio soll nach dem Willen des Mordechai Meisl ein Porträt von dessen verstorbener Frau anfertigen, aber er erklärt sich trotz des ihm winkenden überaus stattlichen Honorars außerstande dazu: »>Wenn ich eines Menschen Bildnis male<, sagte er mehr zu sich als zu ihm, >so ist's mir nicht genug, daß ich sein Gesicht betrachte, das wandelbar ist und heute so aussieht und morgen anders. Ich stelle ihm Fragen, und ich lasse nicht nach, ehe ich ihm nicht ins Herz geblickt habe. Denn nur so bringe ich etwas Gutes zuwege.<« Mordechai Meisl beschreibt seine Frau in Gleichnissen und Bildern, die Brabanzio nicht einmal eine Vorstellung von Esthers Physiognomie zu geben vermögen, aber vor dem in der Maske eines Schreibers eingetretenen Kaiser steigt, »von jenen Worten beschworen, [...] das Bild der Traumgeliebten vor seinen Augen auf, er sah sie so klar, so deutlich wie nie zuvor«. Rudolf fertigt eine Silberstiftzeichnung von Esther an, doch das Bild ist ihrem Wesen nicht ähnlich:
    Vielleicht, sagte er sich, habe ich ihr zu sehr ins Antlitz gesehen und zu wenig in ihr Herz, so könnt' ich's nicht zuwege bringen. - Achtlos ließ er das Bild zu Boden fallen. Er stand auf. Ihn fröstelte, und es war ihm, als hätte er sie jetzt erst für immer verloren.
    Das Bewußtsein, Esther für immer verloren zu haben, ergreift Rudolf in dem Augenblick, als er feststellt, daß er kein Erinnerungsbild von ihr zu zeichnen vermag, da er ihr »zu wenig ins Herz« gesehen hat. Verloren ist, wovon wir uns kein Bild zu machen
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