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Nachtpfade

Nachtpfade

Titel: Nachtpfade
Autoren: N Förg
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Stammtisch.«
    Inzwischen bewegte sich eine
Menschenkarawane von der Hütte zum Gipfelplateau.
    Fanni starrte die Leute an.
    Woher wissen sie es?, fragte sie
sich, und im selben Augenblick fiel ihr die Antwort ein: Max der Hüttenwirt
sprengt die Nachricht wie ein Marktschreier aus.
    Immer mehr Gaffer drängten heran
– sie konnten unmöglich zuvor alle in der Hütte gesessen haben. Die in der
ersten Reihe wurden ans Geländer gedrückt.
    Fanni zog sich unter eine Fichte
am Ende der Planke zurück.
    Der Nationalparkranger
unterbrach sein Telefongespräch, rief: »Zurücktreten!« und fuchtelte mit den
Armen, als wollte er Fliegen verscheuchen.
    Die Gaffer drängelten weiter.
    Sprudel verließ seinen Posten
bei Annabel, trat an die Planke und wandte sich an die Bergwachtmänner. »Wir
sollten die Neugierigen fernhalten. Es könnten wichtige Spuren verwischt
werden.«
    »Ah was«, entgegnete Rudi, »bist
du ein Kriminaler, weil du dich so gut auskennst?«
    »Ein ehemaliger«, antwortete
Sprudel knapp. »Aber muss man denn ein Kriminalbeamter sein, um zu wissen, wie
wichtig Spuren am Tatort sind?«
    »Tatort«, plusterte sich Rudi
auf. »Vom Stein ist sie runtergefallen, die Annabel, und hat sich das Genick
gebrochen dabei. Da muss ich kein Kriminalbeamter sein, damit ich das weiß.«
    »Komm, Rudi«, mischte sich Sepp
ein, »wir halten die Leute lieber auf Abstand. Das kann doch nicht schaden,
wenn sich die Kripo ein unverfälschtes Bild von der Sache machen kann.«
    Unverfälschtes Bild, dachte
Fanni, diesen Ausdruck hätte ich dem Kerl da, der jeden duzt, gar nicht
zugetraut.
    Sie setzte sich auf die
Holzbank, die genau dort, wo das Geländer an einem Felswändchen endete, unter
der Fichte stand.
    Die Schaulustigen hatten sich
inzwischen ein Stück von der Planke entfernt und umringten nun die
Bergwachtmänner.
    Fanni vernahm Rudis Stimme:
»Zwanzig ist die Annabel, grade mal zwanzig.«
    »Gar nicht wahr«, widersprach
Bergwacht-Sepp. »Zweiundzwanzig ist sie. Das weiß ich, weil sie mit meiner
Gisela eingeschult worden ist.«
    Dem konnte Rudi nichts
entgegensetzen. Fanni sah ihm von Weitem an, dass er an dieser Niederlage zu
kauen hatte. Er schwieg einen Moment verstimmt, doch plötzlich schien ihm etwas
Wichtiges einzufallen.
    »Wo ist denn der Severin?«
    »Ja, wo wird er denn schon
sein?«, antwortete Sepp. »Daheim, vor seinem Computer. Was anderes kennt der
doch nicht am Wochenende.«
    »Der Severin hat aber die
Annabel heut früh in seinem Auto hergebracht«, sagte Bergwacht-Rudi, »das hab
ich selber gesehen.«
    Bergwacht-Sepp schaute ihn
skeptisch an. »Seit wann darf denn der auf der gesperrten Forststraße vom
Waldhaus zur Hütte fahren?«, fragte er.
    »Er hat den Max dabeigehabt«,
antwortete Rudi, und das schien alles zu erklären.
    Fanni musste eine Weile darüber
nachgrübeln, bis auch ihr aufging, was Rudi meinte. Max der Hüttenwirt ging an
Krücken, das hatte sie ja soeben selbst mitbekommen. Und deshalb besaß er
gewiss eine Sondergenehmigung, die ihm erlaubte, jederzeit in einem Wagen vom
Zwiesler Waldhaus zur Falkenstein-Schutzhütte zu fahren.
    Fanni wurde durch lautes
Schnaufen zu ihrer Linken vom Gespräch der Bergwachtmänner abgelenkt. Ein
älterer Herr in Bundhosen, Lodenjanker und Trachtenhut hetzte den Pfad herauf.
Er trug einen abgeschabten Rucksack aus der Vorkriegszeit.
    Luis Trenker!
    Eher eine Parodie auf ihn,
dachte Fanni.
    Der Ankömmling war klein und
rundlich und sah mehr nach gemütlichem Opa als nach Bergkraxler aus. Seine
Brille war vom Atemdunst angelaufen. Als er das Plateau erreichte, nahm er sie
ab und schwenkte sie an einem ihrer Drahtbügel hin und her, damit sie wieder
klar wurde.
    Während er mit kurzsichtigen
Augen in die Runde blinzelte, entdeckte ihn Rudi.
    »He, Krautdoktor!«, schrie er.
»Hast du es auch schon mitgekriegt?«
    Der Bundhosen-Opa setzte die
Brille wieder auf, wandte sich der Gruppe um die beiden Bergwächter zu und sah
Rudi geradezu flehentlich an.
    »Annabel«, keuchte er.
    Rudi zeigte auf den Felsblock
hinter dem Geländer und schüttelte mit feierlich-ernster Miene den Kopf.
    Der Opa schrie auf und stürzte
auf die Planke zu, als wolle er darüberhechten. Sepp erwischte ihn am
Lodenjanker.
    »Der Annabel kann keiner mehr
helfen«, sagte er. »Wir nicht und du auch nicht – ganz egal, wie viel Kräutersaft
du ihr brauen würdest.«
    Fanni hörte den Opa schluchzen.
    Ich sollte absteigen und nach
Eisenstein zurückfahren, dachte sie. Es ist
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