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Nachtpfade

Nachtpfade

Titel: Nachtpfade
Autoren: N Förg
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Hals.
    »Weißt, wer das ist?«, fragte er
Rudi.
    Der sah ihn erwartungsvoll an.
    »Die Annabel ist das«,
verkündete Sepp, »schau hin, erkennst sie nicht?«
    Rudi rückte nun seinerseits zu
der Stelle vor, von der aus man einen Blick auf das weiße Gesicht werfen
konnte, und beugte sich über die Planke.
    »Tatz und Fell von der Katz, das
ist sie!«, sagte er. »Und überall Blutspritzer.«
    Blut?
    Fanni wollte die Verunglückte
nicht noch einmal ansehen müssen und die Blutspritzer, die sie zuvor für ein
abstraktes Muster auf der Bluse gehalten hatte, schon gar nicht. Was also trieb
sie auf den Baumstumpf, von dem aus sie einen freien Blick auf die tote junge
Frau hatte?
    Misstrauen? Skepsis? Der Zwang,
sich selbst ein Bild zu machen?
    Die Kleckse auf der Bluse –
eigentlich mehr braun als rot – konnten durchaus Blutspuren sein. Und ja, sie
setzten sich in dem weißen Gesicht fort – kleiner, verwaschener, weniger
deutlich auf der milchigen Haut.
    Fanni fielen Bruchstücke aus dem
Märchen von Schneewittchen ein: »… weiß wie Milch, rot wie Blut …«
    Ja, Annabel war schön wie
Schneewittchen. Sie hätte in eine Werbebroschüre gepasst. Als Reklame für
Sonnenschutzmittel, für Hautlotion, für Tönungsshampoo. Ihr schwarzes Haar
glänzte seidig. Dort, wo ein Sonnenstrahl darauf fiel, schimmerte es dunkelrot.
    Fanni wandte sich ab.
    Als sie von dem Baumstumpf
herunterstieg, sah sie, dass sich um Rudi und Sepp ein Grüppchen Menschen
angesammelt hatte, und erst jetzt drangen die Stimmen in ihr Bewusstsein.
    »Freilich ist das die Annabel«,
rief Sepp soeben, »die Annabel Scheichenzuber ist das.«
    Sein Bayrisch machte ein
»Anerbeel« daraus.
    Fanni seufzte. Sie hatte nie
begriffen, was manch eingefleischten Bayern dazu veranlasste, seinen Kindern
derart unbayrische Vornamen zu geben. Zum einen, fand Fanni, passte nun mal
eine Anna oder Lisa, ein Toni oder Franz besser zu Scheichenzuber, Steigelmeier
oder Brezendorfer als eine Jaqueline, Nicole oder ein Pierre. Zum anderen
wurden diese unkonventionellen Vornamen besonders in Niederbayern ausnahmslos
verhunzt. Leni hatte in ihrer Klasse eine Tschaklinn gehabt, Vera eine Nikohl.
    »Weiß das der Max schon, dass
seine Aushilfsbedienung tot in der Telefonschneise liegt?«, hörte Fanni eine
Stimme fragen.
    »Wird es früh genug erfahren«,
antwortete eine andere.
    »Wo kommt das Mädel denn her?«,
meldete sich eine dritte. »Die Familie muss doch …«
    »Die Annabel wohnt in Zwiesel«,
verkündete Rudi, »am Finkenschlag. Ihr Vater ist Fahrkartenverkäufer bei der
Bahn.«
    »Die Annabel geht auf die
Glasfachschule«, fügte Sepp hinzu und verbesserte sich dann leise: »Ist auf die
Glasfachschule gegangen.«
    »Hat nicht vorhin einer gesagt,
das Mädel bedient in der Schutzhütte?«, warf eine der Stimmen ein.
    »Bloß am Wochenende«, beeilte
sich Rudi Auskunft zu erteilen. »Da hilft sie unserer Heide.«
    »Die kommt eh gerade«, rief Sepp
und deutete zum Aufstiegspfad.
    Alle Köpfe – Fannis inbegriffen
– drehten sich in die gewiesene Richtung.
    Heide hielt ihren knöchellangen
Dirndlrock mit einer Hand gerafft, um nicht auf den Saum zu treten. Ihre Bluse
leuchtete sunilweiß. Aus den mit einer Spange zusammengehaltenen platinblonden
Haaren fielen ein paar Korkenzieherlocken in das großzügige Dekolleté, das wie
eine Geburtstagstorte von weißen Spitzen umrahmt war.
    Die böse Stiefmutter-Königin?
    Nein, dachte Fanni. So
aufgeputzt sie auch hier erscheint, Heide strahlt Wärme aus, Freundlichkeit,
Wohlwollen. Ihr Outfit ist wohl eher ein Zugeständnis an die Gäste der
Falkensteinhütte. Welcher Wanderer bestellt nicht gern ein zweites Bier, wenn
er Heide damit an seinen Tisch locken kann?
    Als Heide an die Planke trat,
bemerkte Fanni, wie schwer sie atmete.
    »Einer von den
Grünzeug-Gendarmen hat beim Max angerufen«, hechelte Heide. »Er hat behauptet,
dass die Anna …« Sie brach mitten im Satz ab.
    Sepp wies mit dem Daumen über
seine Schulter.
    Heide blickte zu dem Felsblock,
wo Sprudel neben Annabel Wache hielt. Der Ranger telefonierte noch immer.
    Fanni fragte sich, wen er wohl
jetzt von dem Unglück verständigte. Max den Hüttenwirt hatte er offensichtlich
schon informiert.
    Heide bekreuzigte sich.
    »Ja«, nickte Sepp, »tot ist sie.
Kannst es ihm ausrichten, dem Max. Oder kommt er selber noch heraufgehumpelt
auf seinen Krücken?«
    Heide schüttelte den Kopf. »Er
schafft doch kaum die Strecke zwischen Tresen und
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