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Nachthaus

Nachthaus

Titel: Nachthaus
Autoren: D Koontz
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Dezembernachmittag stand Silas an einem der Wohnzimmerfenster seines Apartments im zweiten Stock des Pendleton, auf der Kuppe des Shadow Hill, und beobachtete, wie die tiefer gelegenen Boulevards hinter einer aufziehenden Regenwand verblassten. Gebäude aus gelbbraunem Backstein, aus rotem Backstein, aus Kalkstein, sowie die neueren und höheren und hässlicheren Türme mit verglasten Außenwänden wurden sofort zu einem einheitlichen Grau ausgebleicht, als das Unwetter sie überflutete, und wurden so zu den geisterhaften Bauten einer längst ausgestorbenen Stadt in einem Albtraum von Pest und Trostlosigkeit. Weder das warme Zimmer noch sein Kaschmirpullover konnten die Kälte schauer mildern, die wie eine geflügelte Horde durch ihn hindurchfegten.
    Die offizielle Geschichte besagte, vor 114 Jahren seien Margaret Pendleton und ihre Kinder Sophia und Alexander aus diesem Haus verschleppt und ermordet worden. Silas bezweifelte mittlerweile, dass es vor so langer Zeit tatsächlich zu dieser Entführung gekommen war. An jenem Tag war den dreien etwas Seltsameres als Mord widerfahren, etwas Schlimmeres.
    Shadow Hill stieg bis zum höchsten Punkt dieser Stadt im Landesinneren, an und der zweite Stock war die oberste Etage des Pendleton. Das nach Westen gerichtete Gebäude schien über die vom Regen gepeitschte Großstadt zu herrschen, die sich unter ihm ausbreitete. Sowohl der Hügel als auch die Straße waren nach den Schatten von Bäumen und Gebäuden benannt, die an einem sonnigen Nachmittag stündlich länger wurden, bis sie in der Abenddämmerung auf den Gipfel krochen und dort auf die Nacht trafen, die von Osten her kam.
    Das Pendleton war nicht einfach nur ein grandioses Haus, nicht lediglich ein Herrenhaus, sondern genau genommen ein Palast im Beaux-Arts-Stil, 1889 erbaut, zur Blütezeit der ameri kanischen Wirtschaft, rund fünftausendfünfhundert überdachte Quadratmeter, ohne den riesigen Keller oder das separate Kutschenhaus mitzuzählen. Das Gebäude war ein Stilmix aus klassizistischer Architektur und französischer Renaissance, mit Kalkstein verkleidet und mit kunstvoll gemeißelten Fenstereinfassungen. Weder die Carnegies noch die Vanderbilts und noch nicht einmal die Rockefellers hatten jemals ein prächtigeres Haus besessen.
    Nachdem er kurz vor Weihnachten 1889 eingezogen war, hatte Andrew North Pendleton – ein Milliardär in einer Ära, als eine Milliarde Dollar noch richtig viel Geld war – sein neues Haus Belle Vista getauft. Und unter dem Namen war es 84 Jahre lang bekannt; 1973 wurde es dann in eine Eigentumswohnanlage umgewandelt und erhielt seinen neuen Namen – das Pendleton.
    Andrew Pendleton verbrachte eine glückliche Zeit im Belle Vista, bis im Dezember 1897 seine Frau Margaret und ihre beiden kleinen Kinder angeblich entführt und nie mehr gefunden wurden. Danach wurde Andrew zu einem bemitleideten Einsiedler, dessen Exzentrik sich zu einer vornehmen Form von Wahnsinn auswuchs.
    Silas Kinsley hatte seine Ehefrau im Jahr 2008 verloren, nach dreiundfünfzig Ehejahren. Er und Nora waren nie mit Kindern gesegnet gewesen. Da er jetzt selbst seit drei Jahren Witwer war, konnte er sich vorstellen, wie die Einsamkeit und der Kummer Andrew Pendleton seines Verstandes beraubt haben mochten.
    Dennoch war Silas zu dem Schluss gelangt, dass Einsamkeit und Verlust vor langer Zeit nicht die Hauptursachen für den Niedergang und den Selbstmord des Milliardärs gewesen waren. Andrew North Pendleton war auch von einer grässlichen Erfahrung in den Wahnsinn getrieben worden, von einem mysteriösen Erlebnis, das er sieben Jahre lang mit großer Anstrengung zu verstehen versucht hatte und auf das er fixiert blieb, bis er sich selbst das Leben nahm.
    Eine gewisse Fixierung hatte auch Silas infolge von Noras Tod gepackt. Nachdem er das Haus verkauft hatte, in dem sie gemeinsam gelebt hatten, und diese Wohnung erworben hatte, hatte er sich die Zeit damit vertrieben, mehr über die Geschichte dieses Gebäudes zu erfahren, das den Status eines Wahrzeichens besaß. Diese Neugier wuchs sich zu einer derartigen Besessenheit aus, dass er auf der Suche nach Fakten, und seien sie noch so alltäglich, zahllose Stunden damit zubrachte, über Unterlagen in Staatsarchiven zu brüten, Ausgaben von Zeitungen zu studieren, die mehr als hundert Jahre alt waren, und sich in diversen Archiven herumzutreiben.
    Jetzt wich Silas, obwohl er beobachtet hatte, wie die Legionen des Sturms aus dem Tiefland heranmarschiert waren und den
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