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Nacht-Mähre

Titel: Nacht-Mähre
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als so etwas, und lieber die Einberufung, als den Drachen – aber jetzt war es für beides zu spät.
    Es war einfach zuviel. Er stieß ein Gebrüll des Entsetzens aus – und wachte auf.
     
    Imbri sprang durch die Wand und wurde wieder unsichtbar. Sie hatte die Reaktion des Klienten auf den Traum falsch eingeschätzt und wäre fast von ihm in sichtbarer Form erwischt worden. Für eine Nachtmähre war das der Gipfel der Inkompetenz – von einem wachen Lebewesen gesehen zu werden, und wenn es auch nur so unwichtig sein mochte wie ein Kobold. Sie galoppierte in die Nacht hinaus und hinterließ lediglich einen einzigen Hufabdruck als Unterschrift. Diese Unterschrift war äußerst wichtig; Imbri war eine Perfektionistin, und sie liebte es, jedem Alptraum, den sie ablieferte, ihren persönlichen Stempel aufzudrücken.
    Im Osten lauerte die Morgendämmerung. Zum Glück war das ihr letzter Auftrag gewesen; nun konnte sie heimkehren und sich tagsüber ausruhen und grasen. Sie galoppierte über das Land, bis sie zu einem Feld voller Hypnokürbisse kam. Ohne anzuhalten sprang sie in einen der reifen Kürbisse hinein – ein Kunststück, das jeden verblüfft hätte, der sich nicht mit Magie auskannte, denn Pferde waren wesentlich größer als Kürbisse – und fand sich sofort in einer anderen Welt wieder.
    Bald darauf hatte sie sich zu den anderen Mähren ihrer Nachtmährenherde gesellt, die alle ebenfalls von der Arbeit zurückgekehrt waren. Ihre Hufabdrücke zeigten Mondkarten, auf denen die Namen der jeweiligen Mähren hervorgehoben waren: MÄHRE HUMERUM, MÄHRE NUBIUM, MÄHRE FRIGORIS, MÄHRE NECTARIS, MÄHRE AUSTRALE – alle ihre alten, unsterblichen Freundinnen, nach denen die Seen des Mondes benannt worden waren, um ihre jahrhundertelangen nächtlichen Dienste zu würdigen.
    Da kam eine andere Mähre auf Imbri zu galoppiert, um sie abzufangen. Es war Crisium, die vorübergehend als Verbindungsmähre zum Nachthengst fungierte. Sobald sie in Reichweite war, projizierte sie ein Träumchen: ein Elf, der lebhaft beim Sprechen mit den Händen wedelte. »Imbri!« rief der Elf, »melde dich sofort bei Trojan!« Da verblaßte der kurze Traum auch schon.
    Ein Ruf des Dunklen Pferdes persönlich? Dem mußte man sofort folgen! Imbri wirbelte auf einem Huf herum und trabte über die Ebene auf die Stallungen zu. Ihre Ruhepause mußte warten.
    Der Nachthengst erwartete sie bereits. Riesig und gutaussehend, mit mitternachtschwarzem Fell und ebensolcher Mähne, Schweif und Huf, genau wie die Nachtmähren, aber noch viel beeindruckender, stand er einfach da.
    Trojan projizierte einen Traum, der in einem komfortablen Raum in einem Menschenbauwerk spielte. Darin erblickte Imbri die Gestalt einer eleganten Menschendame und einen grauhaarigen Menschenkönig.
    »Du fängst an zu schlampen, Mähre Imbrium!« sagte der Pferde-König. »Du hast jenes gewisse Etwas verloren, das einen erst wirklich erschauern läßt. Ich bin nicht zufrieden mit dir.«
    »Aber ich habe doch gerade eben erst einen Kobold zur Verzweiflung gebracht!« protestierte Imbri-Dame.
    »Ja, nachdem du den Drachen und den unerwarteten Abgrund mit ins Spiel gebracht hast«, erwiderte Trojan. »Du hättest ihn bereits bis zur Bewußtlosigkeit erschrecken müssen, bevor er überhaupt sein Heim verlassen konnte! Man darf Traumdrachen nicht allzu freigebig einsetzen, denn sonst gewöhnen die Träumenden sich an sie und stumpfen ab. Das macht sie dann für die anderen Mähren wertlos. Du mußt stets vermeiden, ein Übermaß an Notlösungen einzusetzen.«
    Imbri mußte zugeben, daß das stimmte. Der Kern des Traums war das Entsetzen gewesen, welches der Einberufungsbescheid im Klienten hätte auslösen müssen. Sie hatte ihren Spielvorteil eingebüßt und einen präzisen Plan ungenau und holprig ausgeführt.
    »Ich werde versuchen, es besser zu machen«, sagte ihre Menschengestalt reumütig.
    »Das genügt nicht«, entgegnete er. »Das gewisse Etwas ist nicht bloß eine Frage der Mühe, die man sich macht. Es ist einem angeboren. Wenn man es erst einmal verloren hat, ist alles vorbei. Mähre Imbrium, ich werde dich verkaufen müssen.«
    »Aber ich kann doch gar nichts anderes!« protestierte sie niedergeschlagen. Sie fühlte sich wie der Kobold, als er den gefürchteten Einberufungsbescheid bekommen hatte. Nach über einem Jahrhundert Dienst, in dessen Verlauf sie sich ihre Mondmeerbenennung verdient und ihr alle Ehre gemacht hatte, war sie doch auf nichts anderes
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