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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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gerunzelter Stirn. »Was ist los? Du siehst aus, als hättest du etwas … gesehen. Eine Feuer speiende Stubenfliege oder ein grün kariertes Pferd.«
    Frederic schüttelte langsam den Kopf.
    »Ich sehe nichts «, sagte er. »Ich sehe etwas nicht. Da ist etwas, das ich nicht sehe. Etwas, das ich sehen müsste.«
    »Was?«
    »Keine Ahnung. Ich sehe es ja nicht.«
    Sie gingen gemeinsam den Gang entlang.
    »Du sprichst in Rätseln«, sagte Hendrik.
    Frederic beschleunigte seinen Schritt. »Vermutlich muss ich einfach nur hier raus«, meinte er.
    Auf dem Hof, in der Herbstsonne, merkte Frederic, wie sehr er drinnen gefroren hatte. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund – schüttelte den Tag von sich ab.
    »Man müsste eine Maschine erfinden gegen die Kälte in St. Isaac«, sagte er.
    »Gibt es schon.« Hendrik grinste. »Heißt Heizung.«
    Er trug seine langen Beine neben Frederic den Bürgersteig entlang, vorbei an der Schulhofmauer, vorbei an den bröckelnden Wänden des Abrisshauses, und sie verfielen in ihr gewöhnliches Schweigen. Hendrik und Frederic schwiegen viel. Es war ihre Art, sich zu unterhalten.
    Sie sahen sich nicht ähnlich: Hendrik hatte eine Adlernase, Augen von der Farbe einer verblassenden blauen Tapete und eine Menge alter Lachfältchen aus Zeiten, die weit zurücklagen. An seinem Kinn trieben sich drei Tage voll Bart herum, und sein streichholzkurzes graues Haar dünnte an den Schläfen aus.
    Frederics Augen waren braun, seine Nase hätte einen Adler beschämt, und er besaß natürlich weder graues Haar noch einen Dreitagebart. Nur ihr Schweigen sah sich ähnlich.
    Sie schwiegen dieses Schweigen seit acht Jahren, seit dem Tag, an dem Hendriks Haare sich stur geweigert hatten, alle gleichzeitig auszufallen. Er hatte darauf gewartet, aber sie waren über Nacht nicht einmal schlohweiß geworden. Hätte es jenen Tag vor acht Jahren nicht gegeben, hätten Frederic und Hendrik womöglich nicht geschwiegen und die Lachfalten wären aktiv geblieben und alles wäre anders gewesen. Es war ein Montag im Herbst gewesen. Geschehen alle wichtigen Dinge an Montagen im Herbst?
    An jenem Montag war Anna mit dem Fahrrad verunglückt. Frederic konnte sich kaum an sie erinnern. Hendrik sagte, Frederic würde so aussehen wie Anna. Aber vielleicht log er. Vielleicht wollte er, dass wenigstens eine Tatsache so war wie in den Romanen – die Kinder sehen immer den toten Müttern ähnlich, nicht wahr?
    An dieser Stelle unterbrach Hendrik seine Gedanken. »Das gibt’s doch nicht«, sagte er. Und dann: »Da bricht jemand in die Wohnung im Erdgeschoss ein.«
    Er war stehen geblieben, und nun blieb auch Frederic stehen. Sie waren beinahe angekommen, nur noch ein Häuserblock trennte sie von ihrem Haus – und gerade in diesem Moment versuchte jemand, in diesem Haus mit einer Kreditkarte ein Fenster zu öffnen. Der Jemand trug Jeans, ein kariertes Hemd und hatte lange rote Locken.
    »Eine Einbrecher in «, wisperte Frederic.
    »Das ist die Emanzipation«, flüsterte Hendrik und seufzte. »Frauen wollen sich eben in allen Berufen mal ausprobieren. Man muss das verstehen.«
    »Aber man sollte ihr sagen, dass die Wohnung im Erdgeschoss leer steht«, wisperte Frederic. »Es gibt nichts, was man hinaustragen könnte.«
    Das Haus besaß drei Stockwerke – das leere Erdgeschoss, Hendriks und Frederics Wohnung auf der ersten Etage und die Wohnung einer alten Dame auf der zweiten. Auf dem Dachboden wohnten die Wäsche, einige kranke Topfpflanzen und ein Kleinstaat schwarzer Spinnen mit haarigen Füßen. Außen an der Fassade blätterte die pastellgelbe Farbe in großen Lappen ab. Darunter kam eine Schicht hellgrauer und eine weitere Schicht lindgrüner Farbe zum Vorschein, was der Wand dort den Gesichtsausdruck einer verrückten Landkarte verlieh. In der Landkarte klebten drei Balkons aus Gussbeton wie zu groß geratene Blumenkästen. Hendrik sagte immer, im Ganzen wäre das Haus ein typisches Architekturverbrechen aus der Nachkriegszeit, aber Frederic mochte es. Dennoch wunderte er sich, dass jemand dort einbrach.
    Die Einbrecherin hatte es inzwischen geschafft, das Fenster zu öffnen. Und dann begann sie zu Frederics Erstaunen nicht etwa, Dinge hinaus-, sondern Dinge in die leere Wohnung hinein zutragen. Sie holte die Dinge aus einem kleinen gelben Auto, und Frederic und sein Vater beobachteten verblüfft, wie sie der Reihe nach eine Stehlampe, drei Stühle und eine Matratze durch das offene Fenster hievte. Die Matratze
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