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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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aufgestickten Veilchen. Josephine selbst hatte den Kopf tief über ihre Arbeit gebeugt und schrieb eifrig. Ihr Blondhaar fiel als Vorhang auf die Tischplatte hinab und verbarg, was sie schrieb. Langsam kullerte der Blutstropfen auf Frederics Blatt und zerlief dunkelrot auf dem Weiß des Papiers.
    »Frederic. Du träumst schon wieder.«
    Frederic sah auf.
    Bruhns große dunkle Gestalt stand vor seinem Tisch und warf einen langen Schatten auf das Pult wie einen Vorwurf.
    »Wir haben hier nicht das Fach Träumerei, sondern das Fach Deutsch«, erklärte er mit ekelhafter Liebenswürdigkeit und strich seinen grauen Schlips glatt. »Wir interpretieren ein Gedicht. Das heißt: Alle anderen sind darin involviert, ein Gedicht zu interpretieren. Frederic der Träumer hat wohl etwas Besseres zu tun.«
    »Allerdings«, murmelte Frederic – jedoch so leise, dass Bruhns es nicht hörte.
    Selbstverständlich hatte es keinen Sinn, Bruhns von der Maus zu erzählen, die nicht da war. Der HD beugte sich über Frederic und sah ihm in die Augen. Bruhns Augen waren braun und im Grunde freundlich, aber es wirkte, als hätte jemand sie so lange blank geschrubbt, bis von der Freundlichkeit nichts mehr übrig geblieben war.
    »Das Gedicht heißt ›Der Panther‹«, sagte Bruhns. »Es befindet sich auf dem Papier vor dir. Nur falls es dir nicht aufgefallen sein sollte.«
    Die Klasse lachte. An der Wand zwischen der Tafel und den aufdringlich bunten Chemietabellen gab es einen großen Spiegel, und Frederic sah darin, wie sie alle gleichzeitig ihre Köpfe hoben und losprusteten – als hätte HD Bruhns den Witz des Jahrhunderts gemacht. Auch Josephine hob den Kopf, um zu lachen. Frederic vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass kein kleines bissiges Tier unter ihrem Haar hervorhuschte. Dann sah er wieder in den Spiegel. Und da entdeckte er hinten in der letzten Bank ein Mädchen, das nicht lachte. Ein blasses, dünnes Mädchen mit dunklem Haar und dunklen Augen, ihr Gesicht halb verborgen vom Kragen eines viel zu großen Wollpullovers. Er wusste, dass sie Änna hieß, aber sie hatte in den sechs Wochen seit Schulbeginn noch kein Wort mit ihm gesprochen. Sie sprach selten mit irgendjemandem. Gewöhnlich lief sie mit gesenktem Blick herum, als wäre es gefährlich, die Leute auch nur anzusehen. Doch jetzt sah sie ihm direkt in die Augen, als wollte sie ihn dringend etwas fragen, möglichst sofort. Ihr Blick verwirrte ihn. Er senkte rasch den Kopf und begann zu schreiben.
    »Na also«, sagte HD Bruhns, sammelte seinen Schatten wieder auf und schlenderte zum Fenster hinüber. Das Gelächter der anderen verstummte wie auf Knopfdruck. Sekunden später hörte Frederic ihre Füllfederhalter wieder über das Papier kratzen. Er schrieb drei Seiten voll, um nicht weiter aufzufallen, während seine Gedanken anderswo waren.
    Natürlich hätte er den Panther ohne Probleme interpretieren können. In der fünften Klasse, auf der anderen Schule, hatten sie ihn schon einmal interpretiert. Er lief hinter seinen Gitterstäben auf und ab und wollte gerne frei sein. Frederic fühlte mit dem Panther. Aber in diesem Moment war er zu verwirrt, um etwas anderes zu Papier zu bringen als das Wort bla in hundertfacher Ausführung.
    Blablablablabla …
    Immerhin schrieb er es in Schönschrift und ohne Rechtschreibfehler.
    In seinem Kopf hinterließ der Panther statt Tatzenspuren Zahnabdrücke, und aus dem Boden des Käfigs traten winzige, glänzende Tropfen von dunkelrotem Blut.
    Etwas stimmte hier nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht.
    Wusste Änna, was es war?
    In der großen Pause durchquerte Frederic das Labyrinth der Flure mit ihren gerahmten Bildern an den Wänden: eintönige Stillleben von Äpfeln und Birnen und fade Bleistiftskizzen von Röhren. Sie sahen alle gleich aus. Zu gleich für Bilder, die von verschiedenen Kindern gemalt worden waren.
    Er verließ den modernen, sterilen Innenbereich von St. Isaac, verließ den Geruch nach Putzmittel und Gummisohlen und trat unter den Engelchen hinaus in den alten Hof. Die Bank unter der Kastanie, die in der Mitte des Schulhofs stand, schien auf ihn zu warten. Er saß gern auf dieser Bank und dachte nach. Aber heute wurde es nichts damit.
    Die anderen aus der Klasse standen in Grüppchen herum und diskutierten das Panther-Gedicht. Normale Schüler, dachte Frederic, hätten noch darüber gesprochen , aber die Schüler von St. Isaac, die HD Bruhns und seine Fremdwörter so zu verehren schienen, diskutierten
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