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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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verfing sich irgendwie in der Fensteröffnung und die Frau zerrte und zog.
    »Man sollte ihr helfen«, sagte Hendrik, rührte sich aber nicht vom Fleck.
    Frederic ging zu der rothaarigen Frau hinüber. »Entschuldigen Sie«, sagte er.
    »Ja?« Sie drehte sich um und lächelte. In ihrem Haar hingen Staubflusen, auf ihrer Nase wuchsen Sommersprossen wie Sternzeichen und in ihrem Lächeln spiegelte sich eine Welt. Frederic schluckte. Wenn seine Mutter so ausgesehen hätte, hätte sie ihm gefallen. »Ich wollte … fragen … warum Sie in diese Wohnung einbrechen?«, fragte er und kam sich ziemlich dumm vor.
    »Ich – äh – komme mir ziemlich dumm vor«, sagte die Frau. »Der Plan war einzuziehen, nicht einzubrechen. Aber es ist mir gelungen, den Wohnungsschlüssel zu verlieren, ehe ich ihn überhaupt ein einziges Mal benutzen konnte.«
    »Wo haben Sie ihn verloren?«, fragte Frederic.
    »Wenn ich das wüsste«, sagte die Frau, »hätte ich ihn ja nicht verloren.«
    »Hm«, machte Frederic. Dann packte er eine Ecke der Matratze, und sie schoben gemeinsam. Schließlich gab die Matratze nach und rutschte durch die Fensteröffnung nach drinnen.
    »Ich habe noch eine Menge Kisten im Auto«, sagte die Frau, etwas hilflos. »Sie sind recht …«
    »… eckig?«
    »Ja. Rechteckig. Und recht schwer.«
    Sie sah sich um. Hendrik war hinter sie getreten und stand so unentschlossen auf dem Bürgersteig, als wäre er sich nicht sicher, ob er vielleicht selbst auch eine Kiste war.
    »Sie zieht ein, Hendrik«, erklärte Frederic. »Helfen wir ihr mit den Kisten?«
    »Ja, hm«, sagte Hendrik.
    Und dann fingen sie an, gemeinsam Kisten hineinzutragen: große Kisten, kleine Kisten, längliche Kisten und quadratische Kisten, Kisten ohne Deckel, aus denen Gewürzdosen und Essigflaschen herausquollen, bunte Schachteln, beklebt mit alten Postkarten, und Plastiktragekisten voller grüner Gewächse.
    Und alles durchs Fenster.
    Schließlich war das kleine gelbe Auto leer und sie saßen zu dritt auf dem Fensterbrett und rangen nach Atem.
    »Vielen Dank fürs Helfen«, keuchte die junge Frau.
    »Falls Sie jetzt immer durchs Fenster gehen«, sagte Frederic, »könnte ich etwas erfinden. Eine Art Klinke für das Fenster.«
    »Könntest du nicht einen Vermieter erfinden, der einen Zweitschlüssel hat?«, fragte die Frau.
    Hendrik war aufgestanden und klopfte sich die Hände an der Hose ab.
    »Ich – äh – geh dann mal nach oben«, sagte er. »Jemand muss sich ums Mittagessen kümmern … und so.«
    »Haben Sie schon gegessen?«, fragte Frederic die Frau. Sie schüttelte den Kopf und einige Staubflusen lösten sich aus ihren roten Locken und schwebten davon.
    »Sie könnten … Hendrik?« Aber Hendrik war schon fort. Frederic seufzte. Sie könnten mit uns zu Mittag essen, hatte er sagen wollen.
    Stattdessen sagte er: »Ich heiße Frederic.«
    »Angenehm.« Die Frau schüttelte ihm die Hand, als wären sie sich gerade erst begegnet. »Ich bin Lisa.«
    Frederic stand auf. »Haben Sie auch einen Nachnamen?«
    »Brauchst du gerade einen?«
    »Ich?« Frederic lachte. »Nein. Ich habe schon einen. Frederic Lachmann. Mein Vater heißt im Übrigen Hendrik Lachmann. Aber ich kann Sie ja wohl schlecht Lisa nennen.«
    »Es käme auf einen Versuch an«, meinte Lisa, schwang ihre Jeans-Beine nach innen in die Wohnung und winkte über die Schulter. Frederic schüttelte den Kopf. Dann ging er außen herum zur Haustür und rannte gleich darauf die Treppen hoch. Die Wohnungstür neben dem Klingelschild »Lachmann« stand offen. Im schmalen Flur dahinter drängten sich Regenjacken und Winterschuhe, Schirme und Regalbretter, staubige Schachteln und Dosen ungewissen Inhalts: Frederic und Hendrik wohnten seit dreizehn Jahren in der kleinen Wohnung, und die Vergangenheit türmte sich in den Ecken zu hohen Stapeln aus Hutschachteln und alten Bilderalben. Vielleicht, dachte Frederic, hätten sie damals umziehen sollen, damals, vor acht Jahren. Vielleicht wäre es besser für Hendrik gewesen. Auch wenn es ihm persönlich leidgetan hätte, das alte Haus im Stich zu lassen.
    Hendrik stand in der Küche vor einem Topf Nudeln.
    »Du hättest sie zum Essen einladen sollen«, sagte Frederic und ließ sich auf einen der alten, knirschenden Ikea-Stühle fallen, deren Teile noch nie richtig zusammengepasst hatten. »Hendrik, du bist ein Idiot.«
    »Sicher«, sagte Hendrik.
    Mehr sagten sie nicht an diesem Tag.
    Als die rote Herbstsonne unterging, stand Frederic am
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