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Nachschrift zum Namen der Rose

Nachschrift zum Namen der Rose

Titel: Nachschrift zum Namen der Rose
Autoren: Umberto Eco
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die
    Figur, annulliert sie, gelangt zum Abstrakten, zum Informellen,
    zur weißen Leinwand, zur zerrissenen Leinwand, zur ver-
    brannten Leinwand; in der Architektur ist das Ende die
    Minimalbedingung des Curtain Wall, das Bauwerk als glatte
    Stele, das reine Parallelepiped, in der Literatur die Zerstörung
    des Redeflusses bis hin zur Collage à la Burroughs, bis hin zum
    Verstummen oder zur leeren Seite, in der Musik der Übergang
    von der Atonalität zum Lärm, zum bloßen Geräusch oder zum
    totalen Schweigen (in diesem Sinne ist der frühe Cage ein Mo-
    derner).
    Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die
    Moderne) nicht mehr weitergehen kann, weil sie inzwischen
    eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmög-
    lichen Texten spricht (die Concept Art). Die postmoderne
    Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und
    Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal
    nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen
    führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie,
    ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die
    eines Mannes, der eine kluge und
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    sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen
    kann: »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, daß sie weiß (und
    daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen
    wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine
    Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: Ich
    liebe dich inniglich.« In diesem Moment, nachdem er die falsche
    Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck
    gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er
    gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß
    er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld
    liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise
    eine Liebeserklärung entgegengenommen. Keiner der beiden
    Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren
    die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon
    Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen
    bewußt und mit Vergnügen das Spiel der Ironie... Aber beiden
    ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.
    Ironie, metasprachliches Spiel, Maskerade hoch zwei.
    Weshalb es dann - wenn beim Modernen, wer das Spiel nicht
    verstand, es nur ablehnen konnte - beim Postmodernen auch
    möglich ist, das Spiel nicht zu verstehen und die Sache ernst zu
    nehmen. Das ist ja das Schöne (und die Gefahr) an der Ironie:
    Immer gibt es jemanden, der das ironisch Gesagte ernst nimmt.
    Ich denke, die Collagen von Braque, Juan Gris und Picasso
    waren »modern«: Deswegen wurden sie vom normalen
    Publikum abgelehnt. Dagegen waren die Collagen,
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    die Max Ernst aus alten Stichen montierte, »postmodern«: Man
    konnte und kann sie auch wie phantastische Traum- oder
    Abenteuergeschichten lesen, ohne zu merken, daß sie einen
    Diskurs über alte Stiche darstellen und vielleicht auch einen
    über das Collagieren selbst. Wenn dies aber postmodern ist,
    dann liegt auf der Hand, warum Sterne oder Rabelais
    postmoderne Autoren waren, warum Borges gewiß einer ist und
    warum in ein und demselben Künstler moderne und
    postmoderne Elemente koexistieren, einander kurzfristig
    ablösen oder auch alternieren können. Man denke zum Beispiel
    an Joyce: Das Portrait ist die Geschichte eines modernen
    Versuchs. Die Dubliners sind, obwohl früher, moderner als das Portrait. Ulysses steht auf der Grenze. Finnegans Wake ist schon postmodern oder eröffnet zumindest den postmodernen
    Diskurs, denn er verlangt, um verstanden zu werden, nicht die
    Negation des bereits Gesagten, sondern dessen ironische
    Neureflexion.
    Über den Postmodernismus ist schon fast alles gleich am
    Anfang gesagt worden (namentlich in Aufsätzen wie »Die
    Literatur der Erschöpfung« von John Barth aus dem Jahr
    1967).20 Nicht daß ich immer mit allem einverstanden wäre, was
    die Theoretiker des Postmodernismus (Barth inklusive) über
    Autoren und andere Künstler schreiben, um jeweils festzulegen,
    wer schon postmodern ist und wer noch nicht. Aber mich
    interessiert das Theorem, das die Theoretiker dieser Richtung
    aus ihren Prämissen ableiten: »Mein idealer postmoderner
    Schriftsteller imitiert nicht und
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    negiert auch nicht seine Eltern im zwanzigsten noch seine
    Großeltern im neunzehnten Jahrhundert. Er hat die Moderne
    verdaut, aber er trägt sie nicht als bedrückende Bürde mit
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