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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer
Autoren: Maggie Stiefvater
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verkündete Isabel. Sie reichte mir ein Buch über Patisserie. »Wie wär's mit dem hier?«
    Ich blätterte es durch. »Die Mengenangaben sind alle metrisch. Und es wird nichts in Tassen abgemessen. Dafür müsstest du dir erst eine Digitalwaage kaufen.«
    »Vergiss es.« Isabel stellte es wieder zurück an den falschen Platz. »Und das hier?«
    In diesem Buch ging es um Torten. Wunderschöne Schokoladenschichttorten, die vor Himbeeren nur so strotzten, goldgelbe Biskuits mit dicken Schichten flockiger Buttercreme und üppige Käsesahnetorten, beträufelt mit Erdbeermark.
    »Du kannst kein Stück Torte mit in die Schule nehmen.« Ich drückte ihr ein Buch über Kekse und Plätzchen in die Hand. »Versuch's mal damit.«
    »Das ist ja perfekt«, jammerte Isabel anklagend und legte das Buch zur Seite auf einen anderen Stapel. »Hast du denn gar keine Ahnung vom Shoppen? Effizienz ist dabei nicht gefragt. Das dauert einfach nicht lange genug. Ich muss dich wohl noch in die Kunst des Stöberns einweisen. Da sehe ich bei dir ein echtes Defizit.«
    Isabel übte in der Kochbuchabteilung so lange mit mir Stöbern, bis ich unruhig wurde und mich aufmachte, um allein durch den Laden zu wandern. Ich wollte eigentlich gar nicht, stieg aber schließlich trotzdem die weinroten Stufen zur Galerie hinauf.
    Der schneeverhangene Tag draußen ließ die Empore dunkler und noch kleiner als zuvor erscheinen, aber das rote Sofa war noch immer da, genau wie die kleinen hüfthohen Regale, in denen Sam gestöbert hatte. Ich sah ihn immer noch vor mir, wie er davorkauerte und nach dem perfekten Buch suchte.
    Ich hätte es wohl nicht tun sollen, aber ich setzte mich auf das Sofa und ließ mich dann nach hinten sinken. Mit geschlossenen Augen stellte ich mir so deutlich wie möglich vor, dass Sam hinter mir lag, dass er mich fest im Arm hielt und dass ich jeden Augenblick spüren würde, wie sein Atem mein Haar streifte und mein Ohr kitzelte.
    Wenn ich mich nur genügend anstrengte, konnte ich ihn fast riechen. Es gab nicht mehr viele Orte, die seinen Geruch bewahrt hatten, aber hier zwischen all den Büchern konnte ich ihn beinahe wahrnehmen - vielleicht wünschte ich es mir aber auch bloß so sehr, dass ich es mir einbildete.
    Ich erinnerte mich daran, wie er mich im Süßigkeitenladen dazu gedrängt hatte, richtig zu riechen. Dem, was ich wirklich war, nachzugeben. Jetzt versuchte ich, die verschiedenen Gerüche der Buchhandlung zu unterscheiden: Da waren das nussige Aroma des Leders, der künstliche Geruch des Teppichreinigers, die süßliche schwarze Tinte und die bunte, die irgendwie benzinartig roch, das Shampoo des Jungen hinter der Kasse, Isabels Parfüm, der Duft der Erinnerung an Sams und meinen Kuss auf der Couch.
    Ich wollte genauso wenig, dass Isabel mich weinen sah, wie sie wollte, dass ich sie weinen sah. Mittlerweile hatten wir eine Menge gemeinsam, aber unsere Tränen waren etwas, worüber wir nie sprachen. Hastig rieb ich mir das Gesicht mit dem Ärmel trocken und setzte mich auf.
    Ich ging hinüber zu dem Regal, aus dem Sam damals das Buch genommen hatte, überflog die Titel, bis ich es wiedererkannte, und zog es heraus. Gedichte von Rainer Maria Rilke. Ich hob es an die
    Nase, um mich zu vergewissern, dass es wirklich noch dasselbe Buch war. Sam.
    Ich kaufte das Buch. Isabel kaufte das Plätzchenbuch und wir fuhren zu Rachel und backten sechs Dutzend Marmeladentaler, während wir die Themen Sam und Olivia sorgsam umschifften. Danach fuhr Isabel mich nach Hause und ich schloss mich mit Rilke im Arbeitszimmer ein und las und sehnte mich.
    Und lassen dir (unsäglich zu entwirrn) dein Leben bang und riesenhaft und reifend, so daß es, bald begrenzt und bald begreifend, abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
    Langsam fing ich an, Gedichte zu verstehen.

  Kapitel 64 - Grace (-9°C)
    O hne meinen Wolf war es nicht Weihnachten. Zu dieser einen Zeit im Jahr hatte ich ihn immer bei mir gehabt, seine stille Erscheinung am Waldrand. Wie oft hatte ich am Küchenfenster gestanden - mit Händen, die nach Ingwer, Muskat und Tannennadeln dufteten, und hundert anderen Weihnachtsgerüchen um mich herum - und seinen Blick auf mir gespürt. Wenn ich aus dem Fenster sah, stand Sam am Waldrand, die goldenen Augen auf mich gerichtet, fest und ohne zu blinzeln.
    Dieses Jahr nicht.
    Ich stand am Küchenfenster und meine Hände rochen nach nichts. Wozu sollte ich dieses Jahr auch Weihnachtsplätzchen backen oder den Baum schmücken? In
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