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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer
Autoren: Maggie Stiefvater
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wartete und wartete.
    Er wartete auch. Worauf, wusste ich nicht. Manchmal kam es mir vor, als ginge alles nur von mir aus.
    Und doch war er immer da - und beobachtete mich dabei, wie ich ihn beobachtete. Er kam nie näher, wich aber auch nie zurück.
    So ging es sechs Jahre lang. Im Winter ließ mich die unergründliche Gegenwart der Wölfe nicht zur Ruhe kommen. Im Sommer zeigten sie sich nie - und das war noch schlimmer. Wohin sie dann verschwanden, darüber dachte ich nicht weiter nach. Es waren eben Wölfe. Nur Wölfe.

  Kapitel 4 - Sam (32°C)
    D er Tag, an dem ich beinahe mit Grace geredet hätte, war der heißeste, den ich je erlebt hatte. Selbst in der klimatisierten Buchhandlung kroch die Hitze langsam durch alle Ritzen und rollte in Wellen herein, sobald die Tür aufging. Träge saß ich auf meinem Hocker hinter der Ladentheke und sog den Sommer auf, als könnte ich jedes Quäntchen davon in mir speichern. So schlichen die Stunden vorbei, und die Nachmittagssonne bleichte die Bücher in den Regalen zu blassgoldenen Abbildern ihrer selbst aus, wärmte Papier und Tinte, sodass der Geruch ungelesener Wörter in der Luft hing.
    Das liebte ich am Menschsein.
    Ich las gerade in einem Buch, als mit einem leisen Pling die Tür aufging und einen heißen Schwall stickiger Luft hereinließ, gefolgt von einer Gruppe Mädchen. Sie lachten ausgelassen, also wandte ich mich wieder meinem Buch zu und ließ sie in Ruhe an den Regalen vorbeischlendern und über alles außer Bücher reden.
    Wahrscheinlich hätte ich nicht weiter über die Mädchen nachgedacht, wenn ich nicht aus dem Augenwinkel gesehen hätte, wie eines von ihnen seine dunkelblonden Haare hochnahm und zu einem langen Pferdeschwanz band. Daran war eigentlich nichts Besonderes, aber die Bewegung sandte einen Geruch zu mir herüber. Ich kannte diesen Duft.
    Sie war es. Sie musste es sein.
    Schnell duckte ich mich hinter mein Buch und spähte unauffällig über den Rand zu den Mädchen hinüber. Die anderen beiden unterhielten sich immer noch und deuteten auf einen Papiervogel, den ich in der Kinderbuchabteilung an die Decke gehängt hatte. Sie sagte nichts, blieb hinter den anderen zurück und betrachtete die Bücher ringsum. Dann sah ich ihr Gesicht und in ihrem Ausdruck erkannte ich etwas von mir selbst. Ihr Blick glitt über die Regale und suchte nach Fluchtmöglichkeiten.
    Wie oft hatte ich diese Situation in meiner Fantasie schon durchgespielt? Und jetzt, als es endlich so weit war, wusste ich nicht, was ich tun sollte.
    Sie erschien mir hier so wirklich. Ganz anders, als wenn sie im Garten saß und las oder Hausaufgaben in ihr Heft kritzelte. Dort kam mir die Distanz zwischen uns unüberwindbar vor, dort gab es tausend Gründe, mich von ihr fernzuhalten. Aber hier im Buchladen wirkte sie plötzlich so atemberaubend nah wie noch nie zuvor. Nichts hielt mich davon ab, mit ihr zu reden.
    Ihr Blick wanderte in meine Richtung und ich sah schnell wieder in mein Buch. Mein Gesicht würde sie nicht erkennen, aber meine Augen. Davon war ich überzeugt.
    Ich hoffte, sie würde gehen, damit ich wieder atmen konnte.
    Ich hoffte, sie würde ein Buch kaufen, damit ich mit ihr reden konnte.
    Eines der Mädchen rief: »Grace, komm mal her und guck dir das an. Volle Punktzahl: So kommst du ans College deiner Träume. Klingt super, oder?«
    Langsam atmete ich ein und betrachtete ihren schmalen Rücken, auf den die Sonne fiel, als sie sich zusammen mit ihren Freundinnen über die Collegeratgeber beugte. So wie sie ihren Kopf schräg hielt, kam es mir vor, als täte sie nur aus Höflichkeit interessiert. Sie nick-te, als ihre Freundinnen auf andere Bücher zeigten, aber sie wirkte abwesend.
    Gedankenversunken beobachtete ich, wie das Sonnenlicht, das durch die Fenster strömte, ein paar einzelne Haare aus ihrem Pferdeschwanz in rotgolden schimmernde Fäden verwandelte. Ihr Kopf bewegte sich fast unmerklich im Takt der Musik, die im Hintergrund lief.
    »Hey.«
    Ich fuhr zusammen, als plötzlich ein Gesicht vor mir auftauchte. Es war nicht Grace, sondern eines der anderen Mädchen, sonnengebräunt und mit dunklen Haaren. Sie trug einen riesigen Fotoapparat über der Schulter und sah mir direkt in die Augen. Ich ahnte schon, was jetzt kommen würde. Die Reaktionen auf meine Augenfarbe reichten von verstohlenen Blicken bis hin zu ungeniertem Starren. Dieses Mädchen war wenigstens ehrlich.
    »Darf ich ein Foto von dir machen?«, fragte sie.
    Ich suchte nach Ausflüchten. »Es
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