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Mystik des Herzens

Mystik des Herzens

Titel: Mystik des Herzens
Autoren: Ingrid Riedel
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plädiert, diejenige nämlich, die von der Mystik des Hörens auf den Meister schließlich zu einer selbständig Handelnden und den Meister Umsorgenden fortgeschritten sei. Martha nämlich wäre demnach nicht beim Zuhören hängen geblieben, sondern hätte sich auch praktisch um Jesus und dessen Wohlergehen zu kümmern begonnen. Und Sölle meint: Das sei die reifere Form des Verhaltens gewesen. Maria hätte beim Hören auf des Meisters Wort gerade erst die Anfangsgründe des Glaubens erlernt. Diese Auslegung Meister Eckarts, die auch Sölle begeisterte, schien ein bisschen auch auf sie selber zuzutreffen. War nicht Dorothee Sölle in ihrem engagierten Leben selbst eine solche Martha geworden? Umhegte sie nicht Gottes Sache und wartete nicht darauf, von Gott umsorgt zu werden? Das ist der revolutionäre Gedanke,den sie schon in ihrem frühen Buch »Stellvertretung« 39 ausführte. Ihr Lebenstraum nämlich, sich von ihrem Gott gebraucht zu wissen, bedeutete Glück für sie.
    Unser letztes Gespräch, in einer Pause zwischen Vorträgen, ging um die rechte Einstellung zum Sterben, hatte ich sie doch nach ihrer Gesundheit befragt. Kurz zuvor, so wusste ich, hatte sie einen tiefen gesundheitlichen Einbruch erlitten, so dass kein Mensch geglaubt hätte, dass sie überhaupt noch einmal zu Vorträgen würde erscheinen können. Vom Tode gestreift war sie jetzt dennoch in Berlin auf dieser Tagung erschienen. Dort habe ich sie etwas besorgt angesprochen, ob sie sich nicht etwas Schonung gönnen wolle? Nein, sie mochte sich nicht »schonen«, wie sie betonte, mochte nicht auf das »Verteilen Gottes«, wie sie ihre öffentliche Wirksamkeit originell nannte, verzichten, um sich für irgendetwas Vages – wofür denn?, so fragte sie zurück – aufzusparen. Gebraucht zu werden, dem Traum Gottes zu entsprechen, indem sie dessen Traum an die Menschen weiterreichte, dies bedeutete für sie zugleich Erfüllung: »Ich bin zu Hause in diesem Kosmos, ohne dass ich jetzt meine Teilhaftigkeit, die ich vielleicht siebzig Jahre lang gehabt habe, weiterleben müsste.« Auch das hat sie mit Überzeugung geschrieben. 40
    Noch in ihren Entwürfen zu einer »Mystik des Todes«, die erst nach ihrem Tod erschien, erzählt sie die kleine Anekdote: »Hauptsache, unser Herrgott bleibt gesund«, soll da ein abgearbeiteter alter Bauer geantwortet haben, als sein Landpfarrer ihn nach seinem Befinden fragte. So hätte es auch Sölle selber sagen können. Sie erwartete, gleichsam »in Gott hinein« zu sterben, ohne auf die Vorstellung einer individuellen Auferstehung abzuheben. Sie ließ offen, was nach dem Tod geschehen würde, denn daran hing für sie nichts. Dass das »größere Leben«, Gottes Leben und Traum für die Welt weitergehe, sich weiter verwirkliche, das war ihr genug. Solo dios, basta. Es hat mich tief beeindruckt,dieses kleine Gespräch in der Pause zwischen zwei Kaffeetassen, und hat mich daran erinnert, wie sie in Lindau bei der Tagung der IGT im Jahr zuvor ihr Gedicht »Gegen den Tod« vorgetragen hatte. Dieses Gedicht soll jetzt am Schluss stehen, als ihr persönlicher Traum gegen den Tod:

    »…
    Sterben muss ich
    aber das ist auch alles
    was ich für den tod tu

    Lachen werd ich gegen ihn
    geschichten erzählen
    wie man ihn überlistet hat
    und wie die frauen ihn
    aus dem land trieben

    Singen werd ich
    und ihm land abgewinnen
    mit jedem ton

    aber das ist auch alles« 41

    Nun mögen wir entscheiden: Gehört Dorothee Sölle zu den Mystikerinnen oder gehört sie nicht? Aber es ist letztlich gar nicht wichtig, wie wir hier entscheiden. Wichtig ist vielmehr, dass wir alle, laut Dorothee Sölle, zu den Mystikerinnen gehören. Und ich denke, dieses Buch wäre nicht geschrieben, nicht gelesen worden, wenn wir nicht selbst berührt wären von dem, was es bei den Mystikerinnen zu erfahren gibt, Weite des Herzens.

Sechstes Kapitel: Zugangswege zur Mystik – Hinführende Übungen
    Sechstes Kapitel
    Zugangswege zur Mystik
    Hinführende Übungen
    Zu Hildegard von Bingen:

    Erste Übung:
Wenn wir Hildegards Vorstellung von der Grünheit (viriditas) nachvollziehen wollen, kann es hilfreich sein, wenn wir zunächst wirklich die Farbe Grün vor unsere inneren Augen treten lassen, wenn wir Grün imaginieren, zunächst in seinen vielen Tönungen, vom frühlinghaften Maigrün über farbgesättigtes Sommergrün bis hin zum dunklen Tannengrün, dem feinen Blauton der wintergrünen Nadelbäume, der Blautannen, Weißtannen. So gehen wir mit dem Grün
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