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Muttersoehnchen

Muttersoehnchen

Titel: Muttersoehnchen
Autoren: Silke Fink
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es so nicht gemeint und war als alter Mann unter anderem auch deswegen resigniert. Er war ein linker Konservativer, der sich seiner privilegierten Situation zeitlebens bewusst gewesen ist. Ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, dass sich eine große Gesellschaft in so flexible Kleinstgruppen aufspalten könnte. In seiner Welt war das System König, in unserer sind es die persönlichen Beziehungen, die man hat oder zu haben glaubt oder gern hätte. Das leugnen wir kraftvoll und wiederholen wie ein Mantra die Bedeutung gerechter, durchlässiger Strukturen. Gleiche Chancen für alle. Aber nur weil wir das ausgiebig beteuern, wird es noch nicht wahr. Der Finger liegt in der Wunde.

    Meine beiden wuchsen auf mit medialen Superlativen und mit alltäglichen Konjunktiven, und sie erfuhren: Entweder es stimmt nicht oder ist nicht zu gebrauchen. Großspurig angekündigte Exklusivität erwies sich als Massenware, während die meisten Erwachsenen nur mit quasi, gewissermaßen, eventuell hantieren. Viele Optionen bedeuten große Freiheit, und die wollen wir uns natürlich nicht nehmen lassen. In meinem Supermarkt ist ab Oktober kein Durchkommen mehr: Kürbisköpfe für Halloween, Weckmänner für den Martinszug und etliche Weihnachtsnaschereien liegen in Sonderständern und versperren mir den Weg zum Joghurt. Es geht nichts mehr nacheinander, ich muss mich an allen Ecken gleichzeitig freuen. Aber überall fehlt die klare Kante. Auch das Gequatsche ist allenthalben leer. Das »Schönen Tag noch!« vom Verkäufer ersetzt das altmodische »Der Nächste, bitte!« und ist die Aufforderung, Platz zu machen für den nächsten Kunden. »Tut mir leid!« ist nichts anderes, nur ohne Umsatz. Kleinigkeiten, aber immer seltener sagt einer, was er meint. Wir haben die Sprache ausgesprochen leer gesprochen.
    Lysa erfährt Entrüstung, von Lehrern und Mitschülern gleichermaßen. Sie sei zynisch und herzlos, wirft man ihr vor, als sie nach dem tragischen Unfall bei Wetten, dass? … bemerkt, dass es immer noch besser sei, vor laufender Kamera in die Querschnittlähmung zu stürzen als unbeobachtet auf der A3. Es gelingt ihr nicht, klarzustellen, dass sie nicht meinte, dem jungen Mann geschähe es recht, sondern, dass er so wenigstens eine erstklassige Versorgung und Rente bekäme. Sie weint daheim wütende Tränen einer Unverstandenen, nur ich freue mich über den Ausbruch, weil er endlich mal nicht Patricks wegen ist. Ganz offenbar kommt sie wieder in Form.
    Die Generation Gaus hatte einen uneinholbar großen Vorteil: Die ganze Welt brauchte sie, fast egal, wo. Das meiste war kaputt, es konnte nur besser werden. Politisches Engagement war Ehrensache, und ansonsten gab es nicht besonders viel Zerstreuung. Wenn Herr Gaus mal chillen wollte, hatte er die Wahl zwischen Der Dritte Mann mit Paul Hörbiger in der Hausmeisterrolle und Laurence Olivier in Hamlet. Und bestimmt hatte er als Abiturient Mississippi von Literaturnobelpreisträger William Faulkner längst
gelesen. Man musste es schon ziemlich dumm anstellen, nicht schlau zu werden.

    Ich verfolge Maiks Route auf Google Maps:
115 km bis Aachen, 1 Std, 9 Min.
256 km bis Brüssel, 2 Std 21 Min.
Kleine Pause?
201 km bis Dünkirchen, 2 Std 37 Min.
Fähre nach Dover: 36,1 Seemeilen, 1 Std 9 Min.
Große Pause.
    Und dann kommt bestimmt der erste Anruf oder eine Kurznachricht; ich habe ihm die Handykarte aufgeladen. Aber bis ein Uhr höre ich nichts. Um zwei nicht, um vier nicht und um sechs Uhr halte ich es nicht mehr aus. Jetzt rufe ich ihn an: The person you have called is temporary not available. Mir bricht der Schweiß aus.
    Maik müsste längst durch London durch sein, schon Birmingham passiert haben. Er müsste sogar bald die zweite Fähre in Holyhead erreicht oder sich in Liverpool ein Hostel gesucht haben. Auf der Insel sind sie eine Stunde zurück. Es hat nichts mit den abgeleisteten Kilometern zu tun, und doch bin ich zufrieden, dass es im United Kingdom noch früher am Tag ist. In einer Stunde probiere ich es erneut.
    Wieder nichts. Ich checke meine Mails nun alle zwei Minuten. Vielleicht was von der Organisation? Rolf sitzt im Büro, mit ihm habe ich schon zigmal telefoniert. Er beruhigt mich mit Sätzen, die mich nicht beruhigen: »Ach, der packt das schon. Sei froh, wenn du nichts hörst!«
    Ich rufe Matthias an. Der ist Journalist und weiß, wie man recherchiert. Er wird meinen Jungen finden. »Ich rufe bei Scotland Yard an«, meint er mit spöttischem Unterton, »die werden sofort
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