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Muttersoehnchen

Muttersoehnchen

Titel: Muttersoehnchen
Autoren: Silke Fink
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Orientierung verlorenging. Und so war ich mit jedem Jahr mehr geneigt zu glauben, dass die höhere Schule verschwendete Zeit ist und eine berufliche Ausbildung die bessere Investition gewesen wäre. Aber was ist schon noch handfest in rosa Kuschelzeiten?

    Der Tag von Maiks Abreise steht nun fest. Morgens um sieben macht er sich auf zur grünen Insel. Die Vögel zwitschern schon lange, das Nutellabrötchen hat er kaum angerührt. Ihm ist etwas flau im Magen, und mir ist schlecht. In seiner Nervosität wirkt er fahrig, ich wirke hysterisch. Wir küssen und herzen uns, Rolf haut ihm auf die Schulter und Lysa sagt: »Ich komme mal vorbei.« Um 13 Uhr muss er spätestens am Fähranleger in Dünkirchen sein. Das sind 458 Kilometer, da darf kein einziger Stau dazwischenkommen. Der junge Mann hat knapp kalkuliert.
    Ich drücke ihm die voll gepackte Kühltasche in die Hand, eine Irland-Straßenkarte für den Fall, dass die Navigation seines Handys ausfällt, und High Fidelity von Nick Hornby. »Da hast Du was zu lesen auf der Fähre.«

    Die Geschichten von Rob, dem 35-jährigen Musikfreak, der sich an das CD-Zeitalter nicht gewöhnen kann und auch nicht an die Eigenarten von Frauen, werden Maik gefallen, bin ich überzeugt. Wir winken nicht lange, denn die erste Kurve kommt nach 50 Metern, und dann können wir das Auto schon nicht mehr sehen.
    Hoffentlich mag er den zehn Jahre alten Bestseller. Bestimmt mehr als den Abituraufsatz von Günter Gaus aus dem Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949, mit dem ich Maik noch zu seiner Schulzeit quälte, weil ich ihn mit Macht davon zu überzeugen versuchte, wie beeindruckend dieser präzise und würdevolle Sprachstil ist. Doch Maik wusste nicht, wer Günter Gaus ist, und der Sprachstil war für ihn nicht präzise und würdevoll, sondern abstrakt und abgehoben. Er glaubte nicht, dass der Text aus der Feder eines Gleichaltrigen stammte, der erst Journalist wurde und später als Politiker und Diplomat in vorderster Reihe die Geschichte des geteilten Deutschlands mitgestaltete. Für ihn war der Verfasser schon als junger Mann steinalt. Ich hatte den Aufsatz in Gaus Buch Was bleibt, sind Fragen entdeckt und behauptete nun, dass es gut sein könne, dass so ein Aufsatz, vielleicht sogar dieser, im Abitur analysiert werden würde. Das war plausibel für Maik, denn wir haben ausreichend viele Lehrer im Freundeskreis, die mich durchaus mit heißen Insiderinformationen hätten versorgen können. Also las Maik, nicht lustvoll, aber aufmerksam, was der junge Gaus zum Thema: »Die Geschichte und wir« schrieb:

    »... Mein Vater weinte am Tische. Er hatte Maria nie geschlagen, nie getadelt und nie geliebt. Sie waren gutmütig aneinander vorbeigegangen. Plötzlich sagte Mutter: Vielleicht hat sie einen Brief zurückgelassen. Maria. Wir suchten sogleich. So oft wir auf ein Teil stießen, das eine Verbindung mit Maria besaß, hielten wir ein. Da hatte Mutter oder Vater oder ich dann ein Wäschestück, ein Buch oder ein Bild in der Hand, und wir sprachen von ihr. Wir sprachen nicht gut oder schlecht über sie, wir sagten Alltägliches. Morgens holte sie Milch. Sie kochte essen. Sie hatte Freunde. In der Schule war sie sehr gut. Das sagte Mutter, denn sie war stolz
auf Maria. Und schließlich hatte sie Recht, schließlich war Maria eine Schreibmaschinenkraft gewesen. Schreibmaschinenkraft, so hieß das in ihrem Betrieb. Ich lachte, als sie es erzählte, mein Vater hatte dunkle Augen vor Schmerz.

    ... Leider fanden wir keinen Brief von Maria ...

    ... Am Tage darauf kam das Mädchen zurück. Die Geschichte war zu Ende. Ich kann versichern, dass meine Eltern und ich uns fast genau so verhielten wie an allen Tagen. Niemand fragte: warum? Und keiner bemerkte die Unterlassung. Wir fragen nicht; wir verstehen nicht zu fragen, da uns niemand fragt. Wir leben, fraglos leben wir.«

    Unter dem Eindruck von Naziherrschaft und Krieg wandte sich der junge Herr Gaus gegen unheilvolle Gruppenzwänge: »Für die meisten Leute, für mich und Sie, gilt, dass sie nur Geschichte machen, wenn man Geschichte mit ihnen macht.« Er plädierte für die Hinwendung zu den Bedürfnissen des Individuums. Dieses Ziel scheint erreicht zu sein. Der Mensch des 21. Jahrhunderts kümmert sich vornehmlich um sich selbst, individuelle Befindlichkeit ist zum höchsten Gut geworden. Es geht nicht mehr darum, was man tut oder lässt, sondern, wie man sich dabei fühlt. Die gefühlte Temperatur ersetzt das geeichte Thermometer.

    Gaus hatte
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