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Mut Proben

Mut Proben

Titel: Mut Proben
Autoren: Carsten Jasner
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ziehen, aber seine Hände waren am Trapezbügel festgefroren. Nach etlichen Kilometern im freien Fall tauten sie endlich auf. Im Krankenhaus hat Wolf die violetten Erfrierungen bewundert.
    Der Trainer versteht es, Theorie mit Anekdoten zu würzen – und mit so mancher Lebensweisheit. Die höchsten Gebilde zum Beispiel, die federartigen Zirruswolken, bestehen aus Eiskristallen und können schlechtes Wetter ankündigen, müssen aber nicht. Merke: »Bei Frauen und Zirren kann man sich irren.«
    Jürgen, der schwere Mann mit den weichen Gesichtszügen aus der Siemens-Datensicherung, ist aufgetaut. Wolf lobt seine Fortschritte. Er sei zufällig aufs Drachenfliegen gestoßen, erzählt Jürgen beim Surfen im Internet. Zuvor war ihm am Jahresende die Erkenntnis gekommen: »Ich arbeite ja nur noch. Das kann doch nicht alles im Leben sein.«
    Jürgen ist einer der wenigen Menschen, deren Neujahrsvorsätze über den Kater hinausreichen. Fast jedes Wochenende sucht er sich seither im Internet etwas Neues heraus. Unternimmt eine »Radltour«, beginnt einen Gitarrenkurs, lernt Spanisch, jetzt Fliegen. »Mein Leben ist nicht mehr langweilig«, sagt er und zieht den Helm über. Als er den Hang wieder hochgeschnauft kommt, ergänzt er: »Es ist aufregender geworden. Aber auch anstrengender.«
    Mein Nachhauseweg führt an einer modernen, kubusförmigen Moschee vorbei. Der Imam der Islamischen Gemeinde Penzberg gilt als ausgesprochen progressiv. Er bittet Frauen ins Gebetshaus, auch ohne Kopftuch. Er wettert gegen Zwangsheirat und radikale Kollegen, ist befreundet mit dem katholischen Pfarrer, dem Bürgermeister, einigen Landespolitikern und predigt die freiheitlich demokratische Grundordnung. Dafür wird er von vielen konservativen Muslimen heftig kritisiert. In gewisser Weise bändigt auch dieser Imam einen Drachen, auch er will fliegen.
    Ein paar Kilometer weiter, hinter Feldern und Wäldern, liegt das idyllische Benediktbeuern, wo ich derzeit wohne. Abends im Gasthaus erzählt eine eifrige Bedienung im Dirndl, dass sie erst seit anderthalb Wochen kellnert. Die zehn Jahre davor hat sie in der Kundenberatung in der Sparkasse verbracht. Bis sie es nicht mehr ausgehalten hat. »Die Schrauben wurden immer stärker angezogen, jede Woche Ziel- und Ergebnisgespräche. Dann hieß es: ›Was, Sie haben zehn Kundenkontakte gehabt und nur zwei Abschlüsse?‹«
    Auch abends sollten sie bei Kunden anrufen. »Es hat mir so gestunken. Die da oben verspekulieren sich, und wir sollen es wieder reinholen.« Es mache ihr Spaß, im Service zu arbeiten, sagt sie, aber nicht, den Leuten alles Mögliche aufschwatzen. Sie ist Mitte vierzig, das Einkommen im Wirtshaus viel geringer. Aber das ist ihr egal.
    In dieser Woche in Bayern lerne ich nicht nur ein bisschen Drachenfliegen, sondern auch eine Menge mutiger Menschen kennen.
    Zehn Punkte brauche ich für den »L-Schein«, den Lernausweis, der belegt, dass ich das Fliegen in den Grundzügen beherrsche. Für jeden eleganten, sicher gelandeten Flug bekomme ich einen Punkt. Gegen Ende werde ich ein bisschen nervös, dass es nicht reichen könnte, bleibe bis in die Abendstunden, um Punkte zu jagen. Die Dämmerung bricht herein, am Rande des Hangs quaken Frösche, im Dorf läuten Glocken, der Trainer knipst das Flutlicht an.
    Wolf ist »total aufgeregt«. Er bekommt morgen einen neuen Drachen, erzählt er, »der ist unglaublich schnell, hundertdreißig Sachen«. Hört das denn nie auf – dieser Rausch? »Nee«, sagt er, »ich freu mich immer noch wie ein Kind. Das hat sich nicht geändert.«
    Dann schwebe ich durch die Lichtkegel und lande abseits in der Finsternis. Mein Helm spricht knarzend: »Das schaut alles sehr gut aus, Carsten, ich darf dir gratulieren zum L-Schein.«
    Da ist wieder mal ein Jauchzer fällig. Etliche davon haben sich in den vergangen Tagen meiner Kehle entrungen. Wenn ich jetzt einen weiteren Kurs belege, würde ich gleich am ersten Tag von tausend Meter Höhe starten. Da sollte nicht mehr allzu viel schieflaufen. Der Gedanke bereitet mir feuchte Handflächen.
    Wie gefährlich fühlte sich das Fliegen bisher an? Angst hatte ich eigentlich nur in einem, immer im selben Moment: wenn ich unter den Drachen schlüpfte und mich mit dem Karabiner einhakte. Balancierte ich das Gerät Sekunden später auf meinen Schultern, herrschte nur noch Konzentration pur.
    Beim letzten Flug allerdings, da passierte etwas Seltsames, erzähle ich dem Trainer zum Abschied. Als ich wusste, jetzt würde ich
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