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Muster - Steffen-Buch

Muster - Steffen-Buch

Titel: Muster - Steffen-Buch
Autoren: Raidy
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volllaufen 86

    zu lassen. Sie saß allein da und goss sich ein Glas nach dem anderen ein. Während ich den Tisch abräumte und das Geschirr spülte, bemerkte ich, dass ich diesmal nicht der Einzige war, den Mutters Verhalten betroffen machte. Meine Brüder schienen genauso viel Angst zu haben, wie ich sie schon seit so vielen Jahren verspürte.
    Für kurze Zeit versuchten Mutter und Vater, zivil miteinander um-zugehen. Doch zu Weihnachten waren beide ihre Farce leid. Als ich am Morgen des ersten Weihnachtstags auf der Treppe zur Garage saß, während meine Brüder ihre Geschenke auspackten, hörte ich sie strei-ten. Ich betete, dass sie sich irgendwie wieder vertragen würden, wenn auch nur für diesen Feiertag. An diesem Weihnachtsmorgen erschien es mir jedoch sonnenklar, dass ich nicht existieren würde, wenn Gott gewollt hätte, dass Mutter und Vater glücklich sind.
    Ein paar Tage später packte Mutter Vaters restliche Kleidung in Kisten und fuhr mit meinen Brüdern und mir zu einem schäbigen Motel, das ein paar Blocks von der Feuerwache entfernt lag, in der er arbeitete. Vor dem Motel wartete Vater. Er schien erleichtert zu sein.
    Verzweiflung stieg in mir hoch. Jahrelang hatte ich dafür gebetet, dass dies niemals geschehen würde, doch es war alles umsonst gewesen -
    meine Eltern trennten sich. Ich ballte die Fäuste so fest, dass ich dachte, meine Fingernägel würden sich in meine Handflächen eingraben. Während Mutter und meine Brüder mit Vater in sein Motelzimmer gingen, blieb ich im Auto sitzen und verfluchte ihn immer wieder. Ich hasste ihn so sehr dafür, dass er seine Familie im Stich ließ. Doch mein Hass wurde noch übertroffen von meiner Eifersucht. Ich war eifersüchtig, weil er entkommen war und ich nicht. Ich musste weiter bei Mutter leben. Ehe sie mit uns wegfuhr, beugte sich Vater durchs offene Fenster zu mir und gab mir einen Umschlag. Er hatte mir versprochen, mir Informationen über ein Buch zu besorgen, über das ich in der Schule ein Referat halten musste, und in dem Umschlag waren die Materialien, die er zusammengetragen hatte. Ich wusste, dass er froh war, Mutters Klauen entronnen zu sein, aber aus seinen Augen sprach auch tiefe Traurigkeit, als er mich anblickte.
    Auf der Rückfahrt nach Daly City herrschte eine gedrückte Stimmung. Wenn meine Brüder redeten, dann taten sie es leise, um Mutter nicht zu stören. Als wir die Stadtgrenze erreichten, hielt Mutter bei McDonald's, um zu versuchen, meine Brüder mit einer Einladung zum Essen aufzumuntern. Wie gewöhnlich blieb ich im Auto, während sie 87

    hineingingen. Ich blickte aus dem offenen Autofenster in den Himmel.
    Es war ein trüber Tag. Ein düsterer, grauer Schleier lag über der Welt, und ich spürte, wie der Nebel sich in kalten Tropfen auf mein Gesicht legte. Plötzlich wurde mir Angst und Bange. Ich wusste, dass Mutter jetzt nichts mehr aufhalten konnte. Das letzte bisschen Hoffnung, das ich noch gehabt hatte, war mir genommen worden. Ich hatte keine Kraft mehr, um weiterzukämpfen. Ich fühlte mich, als säße ich in der To-deszelle und wusste nicht, wann ich an der Reihe sein würde.
    Ich wollte weglaufen, aber ich war vor Angst so gelähmt, dass ich mich nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegen konnte. Ich hasste mich dafür, dass ich so ein Schlappschwanz war. Anstatt wegzulaufen, umklammerte ich den Umschlag, den Vater mir gegeben hatte, und steckte meine Nase hinein. Ich hoffte, Spuren von Vaters Aftershave zu erhaschen.
    Als ich nicht einmal eine Nuance davon riechen konnte, schluchzte ich laut auf. In diesem Augenblick hasste ich Gott mehr als alles andere auf dieser Welt. Jahrelang hatte er meinem Leiden tatenlos zugesehen, obwohl es immer schlimmer wurde, und jetzt, wo er mir meine größte Hoffnung genommen hatte, gönnte er mir nicht einmal den Duft von Vaters Aftershave. Ich verfluchte ihn und wünschte mir, ich wäre nie geboren worden.
    Mir rannen die Tränen übers Gesicht, doch als ich Mutter und meine Brüder zum Auto zurückkommen hörte, wischte ich sie schnell ab und zog mich in mein Schneckenhaus zurück. Nachdem Mutter den Wagen gestartet hatte, warf sie mir einen Blick zu und blaffte: »Du gehörst jetzt ganz allein mir. Zu dumm, dass dein Vater dich nun nicht mehr beschützen wird.« Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, Verteidi-gungsstrategien zu ersinnen. Ich würde nicht überleben. Sie würde mich umbringen, wenn nicht heute, dann morgen. An diesem Tag wünschte ich mir, dass Mutter
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