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Mr. Shivers

Mr. Shivers

Titel: Mr. Shivers
Autoren: Robert Jackson Bennett
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Glasobelisken starrten auf ihn herunter, und zu ihren Füßen fühlte er sich klein und bedeutungslos. Die Städte würgten Gift in Flüsse und Seen, und weit in der Ferne erhoben sich gewaltige Schornsteine, aus deren Öffnungen Rauchsäulen stiegen, die dicker als Berge waren. Dann füllten sich die Fundamente der Türme mit Flammen und Rauch, und er sah zu, wie mehrere von ihnen wie Feuerwerk in den Himmel stiegen und hinter dem Halbschatten aus Feuchtigkeit verschwanden, der das Dach der Welt bildete.
    Millionen Stimmen summten. Eine Milliarde. Noch mehr. Metallsterne wirbelten durch den Himmel und flüsterten einander zu. Alle sprachen auf einmal. Eine beengte Welt, geboren in einem fürchterlichen Gewaltausbruch, eine Welt, die die Gaben des Krieges trank und von der Aussicht auf Beute und Opfer angetrieben wurde, um in Höhen aufzusteigen, wie sie Connelly niemals erahnt hätte.
    Eine Morgendämmerung. Eine Wiedergeburt. Erkauft durch ein schreckliches Opfer, ein großes Leid, das alle anderen verblassen ließ. Aber es würde ein neues Zeitalter gebären.
    Und für dieses neue Zeitalter – einen neuen Tod. Etwas, das in Verzweiflung geschmiedet und so hart gehämmert worden war, bis es sich allem Flehen gegenüber taub erwies und die Bedeutung von Gnade nicht mehr kannte. Etwas, das ohne Zögern Leid verursachen und damit die Zukunft bringen konnte.
    Connelly blickte auf. Auf der anderen Seite des Flusses stand etwas. Etwas Vertrautes. Winkte ihm zu, rief ihn.
    »Nicht«, flüsterte der Narbenmann zu seinen Füßen. »Tu es nicht!«
    Connelly richtete den Blick wieder auf das Ding am anderen Ufer. Er hob den Stein in seinen Händen und holte tief Luft.
    »Es wird schlimmer werden«, sagte der Narbenmann leise. »So viel … schlimmer.«
    »Scheißkerl«, sagte Connelly.
    »Stirb einfach. Stirb einfach und lass es zurück. Geh nicht auf die andere Seite zu ihm. Lass es in Ruhe.«
    »Verfluchter Scheißkerl«, sagte Connelly. Er hob den Stein weiter hoch.
    »Nein«, sagte Shivers. Blut quoll über seine Lippen. Connelly erkannte eine wilde Furcht in seinen Augen, die gleiche Furcht, die er in einem anderen Leben in Memphis gesehen hatte, als der Tod ihn erblickt und zugleich vielleicht auch seine Zukunft gesehen hatte. »Nein«, sagte Shivers erneut. »Nein, nicht. Tu’s nicht!«
    Connelly schlug mit dem Stein zu. Er traf den Narbenmann an der Augenbraue, sein Kopf schnappte zurück, und seine Augen wurden leblos. Dann hob Connelly den Stein erneut und schlug zu. Und schlug zu, wieder und wieder.
    Alles andere verlor seine Bedeutung. Das Geräusch von Stein auf Blut und Fleisch hallte durch die Höhle, und die sinnlose Handlung erschien simpel und primitiv und ruhmreich. Für Connelly lag darin ein wildes, urtümliches Lied. Und irgendwo in ihm verbarg sich der Rhythmus der Welt.
    Unbezwungen und perfekt. Hungrig. Endlos.
    Connelly schlug noch lange zu, nachdem Shivers tot war. Er konnte nicht tot genug sein. Niemals.
    Schließlich hörte er auf. Der Stein polterte neben seinen Füßen zu Boden. Er wischte sich die Stirn ab, streckte die Hände aus und sah zu, wie sie vor Freude und Erschöpfung zitterten. Dann blickte er wieder zu dem Ding auf der anderen Flussseite.
    Wieder winkte es, wartete in aller Ruhe. Geduldig genug, um ganze Zeitalter auszuharren. Connelly schaute in seine schwarzen Augen und ließ den Blick über seine Narben schweifen. Er betrachtete den dichten Bart und das lange schwarze Haar. Dann glaubte er, irgendwo darunter etwas erkennen zu können. Unter den zahllosen Narben befand sich ein Gesicht, das er kannte. Ein Gesicht wie das seine.
    Er hatte einen Vorgänger erschlagen und damit ein Vermächtnis errungen. Eine Fackel und ein Schwert, die inmitten der kommenden Milliarden zu tragen waren und genau wie zuvor weitergereicht werden mussten.
    Die Gestalt streckte ihm die Hände entgegen.
    Connelly nickte. »Also gut«, sagte er leise. »Also gut.«
    Und er watete durch den Fluss.

EPILOG
    Die Morgendämmerung zieht über das Land.
    Die wärmenden Finger der Sonne greifen nach den großen Ebenen. Das wenige, das dort wächst, streckt sich ihrer Berührung entgegen, wird aber von der wimmelnden Menschenmenge ignoriert, die mit gesenkten Köpfen an ihm vorbeigeht. Sie sind weit gereist, aber werden noch weiter reisen, schlängeln sich an den Rändern dieses trockenen Landes entlang auf der Suche nach einem Ort, der sie noch eine Weile länger ernähren kann.
    Die Menschen sind viele, sie
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