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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate
Autoren: Die fernen Stunden
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bringen und sich den Traum
zu erfüllen, ein gedrucktes Buch zu veröffentlichen. Außerdem ist es nicht so,
dass ich keine Aufstiegschancen hätte. Erst im vergangenen Jahr hat Herbert
mich zur stellvertretenden Verlagsleiterin befördert - auch wenn wir zwei die
einzigen Vollzeitkräfte im Verlag sind. Es gab sogar eine kleine Zeremonie mit
allem Drum und Dran. Susan, unsere Teilzeitkraft, hat einen Trockenkuchen
gebacken und ist an ihrem freien Tag ins Büro gekommen, und wir haben mit
alkoholfreiem Wein angestoßen, den wir aus Teetassen tranken.
    Angesichts
der drohenden Räumung nahm ich Mr. Billings Angebot an. Es war eine
ausgesprochen rührende Geste, vor allem, da seine Wohnung wirklich sehr klein
ist, aber es war meine einzige Option. Herbert freute sich riesig. »Wunderbar!
Das wird Jess gefallen, sie ist immer ganz aus dem Häuschen, wenn Besuch
kommt.«
    Und so war
ich in jenem Mai gerade dabei, die Wohnung, die ich mit Jamie geteilt hatte,
leer zu räumen und die letzte, leere Seite unserer Geschichte umzublättern, um
allein eine neue zu beginnen. Ich hatte meine Arbeit, meine Gesundheit und jede
Menge Bücher; nun musste ich tapfer den grauen, einsamen Tagen entgegensehen,
die sich endlos vor mir erstreckten.
    Alles in
allem kam ich ganz gut zurecht. Nur hin und wieder gestattete ich es mir, in
den Tümpel meiner Gefühlsduselei zu tauchen. Dann suchte ich mir eine stille,
dunkle Ecke - wo ich mich besonders gut meiner Fantasie hingeben konnte - und
malte mir in allen Einzelheiten die traurigen Tage aus, an denen ich durch
unsere Straße schleichen, vor unserem Haus stehen bleiben und zu dem Fenster
hochblicken würde, wo ich meine Kräuter gezogen hatte und wo jetzt die
Silhouette eines Fremden erscheinen würde. Stellte mir vor, wie ich einen
Blick auf die unsichtbare Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu werfen
versuchte und den körperlichen Schmerz der Gewissheit spüren würde, dass es
keinen Weg zurück gab ...
     
    Als Kind
war ich eine Träumerin und habe meine arme Mutter damit zur Verzweiflung
gebracht. Wenn ich mal wieder durch eine Pfütze stapfte oder wenn sie mich aus
dem Rinnstein zerren musste, um mich vor dem 209er -Bus zu retten, sagte sie jedes Mal kopfschüttelnd: »Es
ist gefährlich, am helllichten Tag
zu träumen!« oder »So passieren Unfälle, Edie! Du musst aufpassen!«
    Meine
Mutter hatte gut reden, sie war die pragmatischste Frau, die je geboren wurde.
Aber was nützten ihre Ermahnungen einem Mädchen, das ganz in seiner eigenen
Welt lebte, seit es sich die Frage stellen konnte: »Was wäre, wenn ... ?« Natürlich
hörte ich nicht auf zu träumen, ich lernte nur, es besser zu verbergen. Aber in
gewisser Weise behielt sie recht, denn mein Hang, mich in Gedanken
ausschließlich mit der trübseligen, freudlosen Nach-Jamie-Zukunft zu
beschäftigen, führte dazu, dass ich vollkommen unvorbereitet war auf das, was
dann geschah.
    Ende Mai
rief ein Mann im Verlag an, der sich selbst zum Medium ernannt hatte und ein
Manuskript über seine Erfahrungen mit der Geisterwelt in der Romney Marsh
veröffentlichen wollte. Wenn ein potenzieller neuer Kunde uns kontaktiert,
tun wir, was wir können, um ihn zufriedenzustellen, und so kam es, dass ich in
Herberts altem Peugeot nach Essex fuhr, um mich mit dem Mann zu treffen und
wenn möglich einen Vertrag mit ihm abzuschließen. Da ich nur selten Auto fahre
und volle Autobahnen verabscheue, machte ich mich vor Tagesanbruch auf den
Weg, in der Hoffnung, dass ich auf diese Weise unbeschadet aus London
herauskommen würde.
    Ich war um
neun Uhr dort, das Gespräch verlief gut - wir wurden uns einig, es kam zum
Vertrag -, und um Mittag war ich schon wieder auf dem Heimweg. Inzwischen
herrschte wesentlich mehr Verkehr, dem Herberts Auto, mit dem man nicht
schneller als neunzig fahren konnte, ohne zu riskieren, dass man ein Rad
verlor, nicht gewachsen war. Obwohl ich, wenn möglich, auf der Kriechspur fuhr,
wurde ich ständig angehupt und mit finsteren Blicken bedacht. Es tut der Seele
nicht gut, als Ärgernis betrachtet zu werden, vor allem, wenn man keine Wahl
hat. Also verließ ich in Ashford die Autobahn und fuhr weiter über Landstraßen
und Dörfer. Mit meinem Orientierungssinn ist es nicht weit her, aber im
Handschuhfach lag ein Straßenatlas, und ich stellte mich darauf ein, regelmäßig
anzuhalten und die Route im Atlas nachzuschlagen.
    Nach einer
halben Stunde hatte ich mich hoffnungslos verfahren. Ich weiß immer noch
nicht,
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