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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate
Autoren: Die fernen Stunden
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viele Freunde, jedenfalls nicht von der lebenden,
atmenden Sorte. Das heißt nicht, dass ich traurig und einsam bin, ich gehöre
einfach nicht zu den Menschen, die gern eine Menge Leute um sich haben. Ich
kann mich gut mit Worten ausdrücken, allerdings nicht mit gesprochenen, und
ich habe schon oft gedacht, wie wunderbar es doch wäre, wenn ich Beziehungen
auf dem Papier führen könnte. In gewisser Weise tue ich das sogar, denn ich habe
zig Freunde der anderen Sorte, Freunde zwischen Buchdeckeln, auf Hunderten von
Seiten, gefüllt mit großartigen Geschichten, die nie ihre Faszination für mich
verlieren, die mich an die Hand nehmen und in Welten von abgrundtiefem
Schrecken oder überwältigender Freude führen. Faszinierende,
verehrungswürdige, treue Wegbegleiter - einige davon voller Weisheit -, die
mir aber leider kein Gästezimmer für einen oder zwei Monate anbieten können.
    Denn
obwohl ich keine Erfahrung mit Trennungen hatte - Jamie war der erste Freund,
mit dem ich mir eine Zukunft hatte vorstellen können —, war mir irgendwie
klar, dass dies der Moment war, in dem man Freunde um eine Gefälligkeit bat.
Weswegen ich mich an Sarah wandte. Wir waren Nachbarskinder und sind zusammen
aufgewachsen, und Sarah flüchtete immer zu uns, wenn ihre vier jüngeren
Geschwister sich in kleine Monster verwandelten. Es schmeichelte mir, dass ein
Mädchen wie Sarah unser biederes Reihenhaus als Zufluchtsort erwählte, und wir
blieben beste Freundinnen während der ganzen Schulzeit, bis Sarah mal wieder
beim Rauchen hinter den Toiletten erwischt wurde und den Mathematikunterricht
gegen eine Ausbildung zur Kosmetikerin eintauschte. Inzwischen arbeitet sie
freiberuflich für Zeitschriften und beim Film. Ich freute mich für sie, dass
sie solchen Erfolg hatte, aber leider bedeutete das auch, dass sie in der
Stunde meiner Not gerade in Hollywood weilte, wo sie Schauspieler in Zombies
verwandelte, und ihre Wohnung samt Gästezimmer an einen österreichischen
Architekten untervermietet hatte.
    Eine Zeit
lang war ich sehr beunruhigt und malte mir detailreich ein Leben als
Obdachlose aus, bis Mr. Billing - Herbert - mir, wie ein echter Kavalier, das
Sofa in seiner kleinen Wohnung über dem Verlag anbot.
    »Nach
allem, was du für mich getan hast?«, rief er aus, als ich ihn fragte, ob er
sich auch ganz sicher sei. »Du hast mich vom Boden aufgelesen! Du hast mich
gerettet!«
    Er
übertrieb. Ich habe ihn nie am Boden liegend vorgefunden, aber ich wusste, was
er meinte. Ich war schon seit ein paar Jahren im Verlag und war gerade dabei,
mich nach einer etwas anspruchsvolleren Stelle umzusehen, als Mr. Brown starb.
Der Tod seines Partners war ein solcher Schicksalsschlag für Mr. Billing, dass
ich ihn in dem Moment unmöglich alleinlassen konnte. Er hatte niemanden außer
seinem verfressenen, übergewichtigen Hund, und auch wenn er nie darüber
gesprochen hat, so wurde mir doch durch das Ausmaß und die Intensität seiner
Trauer klar, dass Mr. Brown und er mehr als Geschäftspartner gewesen waren. Er
aß nichts mehr, wusch sich nicht mehr und betrank sich, als eingefleischter
Abstinenzler, eines Morgens mit Gin.
    Mir blieb
eigentlich keine Wahl: Ich begann für ihn zu kochen, konfiszierte den Gin, und
wenn wir in die roten Zahlen gerieten und ich sein Interesse nicht wecken
konnte, übernahm ich es, Klinken zu putzen, um uns Aufträge zu besorgen. Seitdem
drucken wir Prospekte für ortsansässige Unternehmen. Als Mr. Billing davon
erfuhr, war er so glücklich, dass er meinen Einsatz reichlich überbewertete. Er
fing an, mich als seinen Protegé zu bezeichnen und sprach auf einmal wieder
voller Zuversicht über die Zukunft von Billing & Brown, darüber, wie er
und ich den Verlag zu Ehren von Mr. Brown wieder auf die Beine stellen würden.
Seine Augen begannen wieder zu leuchten, und ich schob meine Suche nach einem
anderen Job vorerst auf.
    Und
seitdem sind acht Jahre vergangen. Was Sarah ziemlich amüsiert. Es ist
schwierig, jemandem wie Sarah, einer kreativen, klugen Frau, die ausschließlich
nach ihren eigenen Bedingungen arbeitet, zu erklären, dass andere Menschen
andere Kriterien für ihr Wohlbefinden im Leben haben. Ich arbeite mit Menschen
zusammen, die ich bewundere, ich verdiene genug Geld, um meinen Lebensunterhalt
zu bestreiten (wenn auch nicht in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Notting Hill),
ich verbringe meine Tage damit, mit Wörtern und Sätzen zu spielen, und helfe
dadurch anderen Leuten, ihre Ideen zum Ausdruck zu
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