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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate
Autoren: Die fernen Stunden
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hinein.
    »Meine
Familie - Mum, Dad, Rita, Ed und ich -, wir wohnten in einem kleinen
Reihenhaus in der Barlow Street, im Stadtteil Elephant and Castle, und am Tag
nachdem der Krieg ausgebrochen war, wurden wir Kinder in Schulen gesammelt, zum
Bahnhof gebracht und in den Zug gesetzt. Das werde ich nie vergessen, wie wir
in Reih und Glied zum Bahnhof marschierten, mit Namensschildern und Gasmasken
und unseren Taschen, und wie die Mütter, denen es nicht geheuer war, dass wir
fortgeschickt wurden, die Straße heruntergerannt kamen und dem Wachmann
zuriefen, er solle ihre Kinder freilassen, und wie sie dann den älteren
Geschwistern zuriefen, sie sollten auf die jüngeren achtgeben und sie nicht
aus den Augen lassen.«
    Eine Weile
kaute sie auf ihrer Unterlippe, während sie das alles in ihrer Erinnerung noch
einmal durchlebte.
    »Du hast
bestimmt große Angst gehabt«, sagte ich. In unserer Familie berührte man sich
nie viel, sonst hätte ich vielleicht ihre Hand genommen.
    »Anfangs
ja.« Sie blickte auf und schaute mich an, dann nahm sie die Brille ab und rieb
sich die Augen. Ohne ihre Brille wirkte sie verletzlich, ungeschützt, wie ein
kleines, nachtaktives Tier, das vom Tageslicht verwirrt ist. Ich war froh, als
sie die Brille wieder aufsetzte und fortfuhr. »Ich war noch nie von zu Hause
weg gewesen, hatte noch nie eine Nacht getrennt von meiner Mutter verbracht.
Aber meine älteren Geschwister waren ja bei mir, und als wir im Zug saßen und
eine der Lehrerinnen Schokoladenriegel verteilte, wurde die Stimmung gelöster,
und wir kamen uns beinahe vor wie auf einer Abenteuerreise. Kannst du dir das
vorstellen? Es war Krieg, aber wir sangen Lieder und aßen Birnen aus Dosen und
spielten >Ich sehe was, was du nicht siehst<. Kinder sind sehr belastbar,
manche regelrecht gefühllos.
    Irgendwann
kamen wir in einer Stadt namens Cranbrook an. Dort wurden wir in kleineren
Gruppen auf Busse verteilt. Der Bus, in dem meine Geschwister und ich saßen,
brachte uns zu einem Dorf namens Milderhurst, wo wir in Zweierreihen zu einem
Haus mit einem großen Saal marschierten. Ein paar Frauen aus dem Dorf erwarteten
uns bereits mit einem eingefrorenen Lächeln und mit Listen in der Hand. Wir
mussten uns in Reihen aufstellen, während die Leute umherliefen und ihre Wahl
trafen.
    Die
Kleinen gingen schnell weg, vor allem die hübschen. Ich nehme an, die Leute
dachten, dass sie mit denen weniger Arbeit haben würden, dass sie nicht so
stark den Geruch von London an sich hätten.« Sie lächelte schief. »Die haben
ihren Irrtum schnell eingesehen.
    Mein
Bruder wurde gleich zu Anfang ausgewählt. Er war groß und kräftig für sein
Alter, und die Bauern brauchten dringend Helfer. Kurz darauf wurde Rita
zusammen mit ihrer Schulfreundin mitgenommen.«
    Ich konnte
nicht mehr an mich halten. Ich nahm die Hand meiner Mutter. »Ach, Mum.«
    »Schon
gut«, sagte sie, zog ihre Hand weg und gab mir einen Klaps auf die Finger. »Ich
war nicht die Letzte. Es waren noch andere da. Zum Beispiel ein kleiner Junge
mit fürchterlichem Hautausschlag. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist,
aber er stand immer noch in dem Saal, als ich ging.
    Weißt du,
später habe ich noch jahrelang angeschlagenes Obst gekauft, wenn ich es im
Geschäft in die Hand genommen hatte. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, es
erst von allen Seiten zu prüfen und dann wieder zurückzulegen, wenn ich sah,
dass es Stellen hatte.«
    »Aber
irgendwann wurdest du mitgenommen.«
    »Ja,
irgendwann wurde ich mitgenommen.« Sie sprach plötzlich ganz leise und
nestelte an etwas in ihrem Schoß herum. »Sie kam ziemlich spät. Der Saal war
schon fast leer, die meisten Kinder waren fort, und die freiwilligen
Helferinnen waren schon dabei, die Teetassen wegzuräumen. Ich hatte angefangen
zu weinen, aber so, dass es niemand merkte. Dann plötzlich rauschte sie herein, und der ganze Saal, selbst die Luft wirkte wie
verwandelt.«
    »Verwandelt?«
Ich zog die Nase kraus und dachte an diese Szene in Carrie, wo die Elektrik explodiert.
    »Es ist
schwer zu erklären. Hast du es schon mal erlebt, dass jemand sofort eine
bestimmte Atmosphäre verbreitet, wohin er auch kommt?«
    Vielleicht.
Ich hob die Schultern. Meine Freundin Sarah ist eine Frau, nach der sich alle
umdrehen, wenn sie auftaucht, nicht unbedingt ein atmosphärisches Phänomen,
aber dennoch ...
    »Nein,
natürlich kennst du das nicht. Es klingt ja auch albern ... Was ich meine, ist,
dass sie anders war, so ... Ach, ich weiß
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