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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate
Autoren: Die fernen Stunden
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sie
feststellte, dass von ihr als Mutter jetzt irgendeine Art von Trost erwartet
würde ...
    Aber
zurück zu dem Brief. Das Geräusch von etwas, das durch den Briefschlitz
geschoben wurde und leise zu Boden fiel.
    »Edie,
kannst du mal nachsehen?«, sagte meine Mutter.
    Sie
deutete mit einer Kinnbewegung in Richtung Flur und gestikulierte mit der Hand,
die sich nicht im Innern des Hühnchens befand.
    Ich legte
die Kartoffel weg, wischte mir die Hände an einem Geschirrtuch ab und ging die
Post holen. Es war nur ein einzelner Brief, der auf der Fußmatte lag: ein
offizieller Umschlag der Post, dessen Inhalt als »Nachsendung« deklariert
wurde. Ich las meiner Mutter die Aufschrift vor, als ich in die Küche kam.
    Sie hatte
das Hühnchen fertig gefüllt und war gerade dabei, sich die Hände abzutrocknen.
Stirnrunzelnd, eher aus Gewohnheit als aus Besorgnis, nahm sie den Brief
entgegen und klaubte ihre Lesebrille von dem Kürbis in der Obstschale. Sie
betrachtete den Postaufdruck und begann, den äußeren Umschlag zu öffnen.
    Ich hatte
mich wieder dem Kartoffelschälen zugewandt, eine Aufgabe, die mir im Moment
dringlicher erschien, als meine Mutter beim Öffnen der Post zu beobachten,
deswegen habe ich leider ihr Gesicht nicht gesehen, als sie den kleineren Umschlag
hervorzog, das dünne Notpapier sah und die alte Briefmarke, als sie den Brief
umdrehte und den Absender auf der Rückseite las. Aber seitdem habe ich mir oft
vorgestellt, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, wie ihre Finger zu zittern
begannen, sodass es mehrere Minuten dauerte, ehe sie in der Lage war, den
Umschlag aufzureißen.
    Was ich
mir nicht vorzustellen brauche, ist das Geräusch. Das entsetzte, kehlige Keuchen,
gefolgt von heiserem Schluchzen, das so plötzlich kam, dass mir das
Schälmesser abrutschte und in den Finger schnitt.
    »Mum?« Ich
ging zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern, wobei ich darauf achtete,
dass kein Blut auf ihr Kleid tropfte. Aber sie sagte nichts. Sie konnte es
nicht, erzählte sie mir später, nicht in diesem Augenblick. Sie stand
stocksteif da, und Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie sich den
Umschlag an die Brust drückte, einen seltsamen kleinen Umschlag aus so dünnem
Papier, dass ich den gefalteten Brief darin erkennen konnte. Dann, nachdem sie
ein paar wirre Anweisungen zu dem Hühnchen, dem Ofen und den Kartoffeln
erteilt hatte, ging sie nach oben und verschwand in ihrem Schlafzimmer.
    In der
Küche wurde es bedrückend still, nachdem meine Mutter fort war, und ich schlich
nur noch auf Zehenspitzen herum. Meine Mutter weint nicht leicht, aber dieser
Augenblick - ihr Schreck und der Schock, den er bei mir auslöste - kam mir
vage bekannt vor, als hätte ich dasselbe schon einmal erlebt.
    Nach einer
Viertelstunde, in der ich die Kartoffeln zu Ende geschält hatte, die
Möglichkeiten durchgegangen war, wer der Absender des Briefs sein könnte, und
mich gefragt hatte, wie ich mich verhalten sollte, klopfte ich schließlich an ihre
Tür und fragte sie, ob sie eine Tasse Tee wolle. Sie hatte inzwischen die
Fassung wiedergewonnen, und wir setzten uns einander gegenüber an den kleinen
Resopaltisch in der Küche. Während ich so tat, als würde ich nicht bemerken,
dass sie geweint hatte, begann sie zu sprechen.
    »Ein
Brief«, sagte sie, »von jemandem, den ich vor langer Zeit mal gekannt habe. Als
ich zwölf, dreizehn Jahre alt war.«
    Ein Bild
fiel mir ein, an das ich mich dunkel erinnerte, ein Foto, das auf dem
Nachttisch meiner Großmutter gestanden hatte, als sie im Sterben lag. Drei
Kinder, das jüngste meine Mutter, ein Mädchen mit kurzem, dunklen Haar, das im
Vordergrund auf etwas hockte. Seltsam, ich hatte Gott weiß wie oft am Bett
meiner Großmutter gesessen und konnte mich doch nicht an das Gesicht des
Mädchens erinnern. Vielleicht interessieren sich Kinder ja erst dann dafür,
wer ihre Eltern vor ihrer Geburt waren, wenn etwas passiert, das mit der
Vergangenheit zu tun hat. Ich trank meinen Tee und wartete darauf, dass meine
Mutter fortfuhr.
    »Ich
glaube, ich habe dir nicht viel über diese Zeit erzählt, nicht wahr? Über die
Zeit im Krieg, im Zweiten Weltkrieg. Es war eine schreckliche Zeit, all die
Aufregung und die Zerstörung. Es schien ...« Sie seufzte. »Na ja, es schien,
als würde die Welt nie wieder normal werden. Als wäre sie aus dem Gleichgewicht
geraten und nichts könnte sie wieder ins Lot bringen.« Sie legte ihre Hände um
ihre dampfende Tasse und schaute
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