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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock
Autoren: Jon Mayhew
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mondlosen Nacht.
    »Josie?« Alfies Stimme riss sie aus ihrer Benommenheit. Er saß immer noch da und hielt Wiggins in seinen Armen, der leise vor sich hin stöhnte.
    Doch Alfie sah nicht seinen Vormund an, sondern Mortlock,der mühsam zu der auf dem Boden liegenden Amarant gekrochen war. Er nahm die Blume und hielt sie vor sich.
    Ihr Licht wurde stärker, umschloss Mortlock und heilte seinen zerstörten Körper. Die braune pergamentartige Haut wurde weich und rosig und breitete sich über die schwellenden Muskeln. Die langen, dünnen Strähnen auf seinem Kopf wurden durch kräftiges, glänzendes Haar ersetzt. Sein ganzer Körper schien sich zu weiten, als Organe und Fleisch zurückkehrten. Bald stand Mortlock in voller Größe vor ihnen, noch immer in die Lumpen aus dem Grab gekleidet, aber ein Bild von Kraft und Gesundheit.
    »Wenn ihr mich seht, wie ich einst war, erkennt ihr vielleicht, dass ich kein Ungeheuer bin«, sagte Mortlock mit einem Lächeln. Josie nickte und betrachtete seine kräftige Nase, seine breite Stirn. Er erinnerte sie an einen Löwen mit zurückgestrichener Mähne. Als sie ihn jetzt so vor sich sah, lebend und ohne die Spuren des Grabes, vergaß sie beinahe die schrecklichen Dinge, die er getan hatte. Ihr Vater lebte! Sie wandte sich zu Alfie um. Er hatte den gleichen Mund und die gleiche kräftige Nase. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen.
    Wiggins’ Stöhnen riss sie aus ihrer Träumerei. Mortlock hätte den alten Mann beinahe getötet, und er hatte vorgehabt, Cardamom zu töten. Jetzt war er aus seinem Grab auferstanden und wollte die Welt beherrschen.
    »Wir können nicht zulassen, dass du die Amarant behältst«, sagte sie schweren Herzens. Sie hatte Gimlet und Cardamom verloren, und nun würde Mortlock wahrscheinlich sie, Alfie und Wiggins töten. Doch hier ging es nicht nur um ihr Leben. Sie mussten die Amarant vernichten, für all diejenigen, die jemals geliebt und diesen geliebten Menschen verlorenhatten, für all die Menschen, deren Leben künftig unter der Herrschaft der Amarant stehen würde, und für die armen, verfluchten Seelen von Lorenzos Zirkus.
    »Und ich kann nicht zulassen, dass du sie mir wegnimmst, Josie«, erwiderte Mortlock. Er schien sich bereits mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass er seine eigenen Kinder töten musste. Dann zögerte er. »Vorhin, als die Krähe mir die Amarant entrissen hat, hast du geweint. Um meinetwillen?«
    Josie schwieg einen Moment. »Ja«, sagte sie schließlich leise. »Um den Vater, den ich nie hatte. Und um dich, weil du so einsam und machtlos bist.«
    »Ich bin dein Vater. Könntest du nicht bei mir bleiben und all das, was die Amarant mir ermöglicht, mit mir teilen?«
    »Nein.« Josie schüttelte den Kopf. »Du kannst den Tod nicht ausschalten und musst uns töten, wenn du die Amarant behalten willst. Was du auch tust, der Tod wird immer einen Weg finden, sich in deine vollkommene Welt einzuschleichen – und ein lebender Tod ist das Schlimmste überhaupt. Die Amarant ist ein Fluch, auch wenn sie so schön aussieht.«
    »Dann werde ich dem ein Ende machen«, sagte er und hielt die Amarant in die Höhe. Josie schloss die Augen und wartete auf den Blitzschlag des Schmerzes, der ihr Leben beenden würde.
    Doch nichts geschah.
    Ein leichter Wind wehte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, und sie öffnete die Augen wieder. Mortlock stand da, die Amarant über seinen Kopf erhoben. Ein Lichtstrahl schlängelte sich von oben um seinen Körper, erst langsam, dann immer schneller. Die Amarant gab eine Art Stöhnen von sich.
    Mortlock lächelte Josie zu. »Die Amarant ist eine lebendeBlume. Wenn ich es ihr befehle, zerstört sie sich selbst. Aber der Preis dafür ist mein Leben – wie ich es dir gesagt habe. Opfer und ein weiches Herz, Josie …«
    »Ja«, sagte sie und sah staunend zu ihm auf. Tränen liefen ihr über die Wangen.
    »Ich liebe euch, Josie, dich und Alfie«, sagte er sanft. »Ich wollte euch immer kennenlernen, wollte wissen, wie es ist, ein richtiger Vater zu sein. Und jetzt, wo ich euch gefunden habe, erkenne ich, dass ich die Amarant niemals behalten könnte, ohne euch zu töten, und das bringe ich nicht fertig. Ihr seid so voller Leben und Liebe. Und ich bin müde, Josie, unendlich müde. Und jetzt fort mich euch, schnell! Bevor es zu spät ist.«
    Die Lichtspirale drehte sich immer schneller, und von der Amarant flogen Funken auf wie winzige Blitze. Das Stöhnen der Blume steigerte sich zu einem gequälten Heulen.
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