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Mordstheater

Mordstheater

Titel: Mordstheater
Autoren: Imogen Parker
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früher, verstehen Sie —«
    »So wie früher, bevor Jack Sie mit sich nahm?«
Ich riet nur, aber nachdem ich das Stück in den frühen Morgenstunden zu Ende
gelesen hatte, hatte ich das Gefühl, ich kannte die Geschichte.
    »Ja. Genau so.« Trotz ihres grauen Haars und des
Makeup sah Dorothy einen Augenblick aus wie ein kleines Mädchen. Dann verzog
sich ihr Gesicht, und sie fing an zu weinen.

  Am Ende bereute ich, das Restaurant ausgesucht zu
haben, weil ich die total überteuerte Rechnung für ein paar Flaschen
durchschnittlichen Hauswein zahlen mußte. Wir hatten zusammen etwa hunderfünfzig
Gramm von dem Essen zu uns genommen, aber sie war in einem derart schlimmen
Zustand, daß ich sie dort hinausbugsieren mußte.
    Ich erfuhr an diesem Nachmittag noch eine Menge
mehr über die Brown-Schwestern, als Dorothy zwischen Tränenausbrüchen und mit
sanfter Nachhilfe meinerseits immer weiter drauflosredete, während sie auf
meinem Sofa saß oder manchmal lag.
    Sie waren im Krieg zu Waisen geworden und von
einer Frau aufgezogen worden, die sie »Mama« nannten. Das mußte die alte Dame
bei der Beerdigung gewesen sein. Sie hatten die Kriegsjahre
rollschuhfahrenderweise in den bombardierten Straßen von London verbracht, und
wenn die Sirenen ertönten, ihre Nachbarn im Luftschutzkeller mit
selbsterfundenen Stücken unterhalten. Amy, die ihren Namen entschieden zu albern
fand und darauf bestand, Agatha genannt zu werden, war immer die Anführerin.
Ihre Schwester, die nur achtzehn Monate jünger war, schaute bewundernd zu ihr
auf. Wenn sie ein paar Pence von ihrem Taschengeld gespart hatten, gingen sie
in die Leihbücherei und holten sich Bücher.
    Je mehr sie las, desto mehr träumte Agatha
davon, in eine andere Schicht hineingeboren zu sein, und als sie Teenager
waren, machten sie sich davon und taten einfach so, als stammten sie anderswo
her, was in dieser Zeit, als so viele Leute vom Krieg entwurzelt waren,
einfacher war, als man denken würde. Agatha ersann ihren Werdegang, und Dorothy
stieg in das Spiel mit ein. Agatha mußte Dorothy immer testen, weil sie dazu
neigte, sich zu verplappern, aber sie lernte dazu, und als sie Anfang Zwanzig
waren, hatten sie ihre Position in der Künstlergemeinde der späten fünfziger
Jahre gefestigt. Agatha, immer die Unternehmerin, hatte sich als Agentin
niedergelassen. Dorothy war, soweit ich das einschätzen konnte, nicht mehr als
ihre Assistentin, aber dennoch nannten sie die Agentur Brown und Brown. Und
dann war Tony White aufgetaucht. Er hatte in einer Klatschkolumne von den
beiden charmanten, erfolgreichen Schwestern gelesen.
    Auch er war ein Straßenkind, und zwar ein
jüngeres, das immer in ihren Stücken hatte mitspielen wollen, aber von Agatha
ausgeschlossen worden war. Er wußte alles über sie, also mußten sie ihn
schließlich doch mitmachen lassen. Ich fand, Dorothy hätte mir nicht all das
erzählen sollen, obwohl ich nicht sagen konnte, warum es mir jetzt noch etwas
ausmachte. Vielleicht war ich selbst von dem Spiel gefangengenommen worden und
wollte nicht wissen, daß es alles eine Fiktion war.
    Ich verstand Jack Burtons Stück jetzt fast
besser, als mir lieb war. Ich erinnerte mich vage, wie Agatha gesagt hatte, daß
es schrecklich veraltet war. Sie hatte natürlich insofern recht, als
Klassenschranken nicht mehr das Problem sind, das sie in den sechziger Jahren
waren. Oder wenigstens möchten wir das glauben. Und es war ein Stück über
Klassenunterschiede; auch ohne den Hintergrund der Charaktere im wirklichen
Leben zu kennen, konnte man sehen, daß das große Haus und die ganzen schönen
Dinge darin als Metapher für die Mittelschicht standen, und es gab winzige
verräterische Redewendungen in Bellas wie auch eindeutig in Sids Vokabular. Im
weiteren Sinne war es jedoch eine Parabel darüber, wie Leute vorgeben, etwas zu
sein, was sie nicht sind. Mit seiner merkwürdig schauerromanhaften Atmosphäre
hatte es, so empfand ich, einen allgemeingültigeren Appell als manche der
wahrhaft sozialkritischen Dramen der Zeit, und ich war erstaunt, daß es nicht
bekannter war. Vom Stil her war es knapp und geistreich und grenzte manchmal an
eine Farce, und sogar beim Lesen, anstatt es auf der Bühne zu sehen, hatte ich
an mehreren Stellen gelacht und doch einen echten Schauer des Schreckens
gespürt, als sich der Plot entwirrte.
    Die Akte hatte zahlreiche Anfragen nach dem
Stück enthalten, aber anscheinend war keine auf einen Vertrag hinausgelaufen.
Keine von ihnen, wenn
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