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Mordsschock (German Edition)

Mordsschock (German Edition)

Titel: Mordsschock (German Edition)
Autoren: Gaby Hoffmann
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Schicht überzogen. In den Fenstern stehen Kerzenleuchter, die einladend in der Dämmerung für Gemütlichkeit werben. Verheißungsvoll versprechen sie Düfte nach Bratapfel und Christstollen. Tannengirlanden hängen an den Eingangstüren, manchmal bewacht von leuchtenden Plastikschneemännern. Lichterketten glitzern in den Nadelbäumen. An einigen Hausfassaden klettern sogar Plastiknikoläuse hoch. Silbern funkelnde Sternchen baumeln an den Straßenlaternen. Im Fenster der Bäckerei blinkt ein komplettes Rentiergespann samt Schlitten.
    Es schneit. Dicke Flocken wirbeln vor meiner Windschutzscheibe auf und ab. Sie tanzen ihren Reigen, bis sie zu Boden sinken, wo sie sich augenblicklich in Wasser auflösen. Aus dem Radio eines parkenden Autos ertönt laut ‚Last Christmas‘ von Wham.
    Ich schicke verzweifelt eine SMS an Vic: ‚Wo seid ihr?‘
    Keine Antwort!
    Anzurufen traue ich mich nicht, wer weiß, wen ich dadurch aufschrecke und Vic in größere Gefahr bringe!
    Ich fahre weiter. Kreuz und quer durch Nebenstraßen, biege wieder auf die Hauptstraße, stoppe abrupt, sobald ich ein kleines Mädchen mit blauer Steppjacke und Baseballmütze sehe. Aber es ist nie Vic! Wo soll ich sie suchen? Verzweifelt warte ich auf eine Eingebung.
    Ich betrachte ihre Nachricht. Seltsam, dass Vic Zeit fand, mir auf Englisch einen Kuss zu senden. ‚Kis. Vic.‘ Wieder lese ich die Worte. Vic und ihre mangelhafte Rechtschreibung! Moment! Mangelhafte Rechtschreibung? ‚Kis‘ – endlich weiß ich, was sie damit meint.
    Aufgeregt mache ich einen waghalsigen Return und brause mit 120 Sachen in die Gegenrichtung. Meine kleine Schwester wollte mir keinen englischen Kuss geben, sondern mitteilen, dass Ken sie in die Kieskuhle verschleppt hat!
    Ich kenne keine Geschwindigkeitsbegrenzungen mehr. Der Wagen rutscht und schlittert auf der wässrigen Schneeschicht aus der Stadt heraus. Ich breche alle Regeln. Sebastians und Peters grauenvolles Ende klebt wie eine unheilvolle Szene aus einem Actionthriller über meinem Spiegel. Mein Gott, nicht Vic! Ich schreie laut auf. Sie ist doch ein Kind!
    Den Herbecker Forst samt Herrenhaus und Teich lasse ich auf der rechten Seite liegen. Das Auto ist kurz vorm Abheben. Ich brause von der Hauptstraße ab und biege links in den Weg ein, der zur Kieskuhle führt. Wie mit Puderzucker überzogen, fügt sich die Landschaft in das vorweihnachtliche Bild ein und gaukelt Frieden vor. Oh, wie verlogen! Ich stoße einen harten Lacher aus.
    Ein einsamer Mercedes wartet auf dem Parkplatz. Ich habe mich nicht geirrt! Nur zu gut kenne ich den Wagen. Wie stolz thronte ich im Sommer auf dem Beifahrersitz und fühlte mich wie eine Königin!
    Für reuige Nostalgie ist keine Zeit. Ich stelle mein Auto neben Kens Mercedes und renne den Sandweg hinunter, der den See der Kieskuhle umrundet.
    Gleich vorne glitzert etwas unter einem struppigen, immergrünen Busch. Im braungrünen Gras, das jetzt mit einer leichten weißen Schicht überzuckert ist, liegt ein Handy. Ich hebe es auf. ‚Kurzmitteilung erhalten.‘ Ich lese meine eigene Nachricht an Vic: ‚Wo seid ihr?‘ Niemals hätte meine kleine Schwester sich freiwillig von ihrem geliebten Handy getrennt! Leise wiederhole ich die Worte. Meine Augen sind blind vor Tränen.
    Ich stolpere vorwärts. Die Dunkelheit hüllt die Landschaft wieder schlagartig ein. Das Schnee-Wasser-Erde-Gemisch ist rutschig. Meine Beine geraten einen Augenblick außer Kontrolle, ich falle über einen Gegenstand. Ich liege am Boden und befühle das Hindernis. Eine Eisenstange. Mühsam richte ich mich auf, dabei schlucke ich jede Menge Schneeflocken, die mir als eisiges Wasser die Kehle hinunterrinnen. Und da sehe ich sie!
    Auf der gegenüberliegenden Seite, dort wo Kies abgebaut wird, bewegen sich im Schein einer Taschenlampe zwei dunkle Schatten. Ein kleiner und ein großer. Sie gehen auf die Pumpenanlage zu. Bilde ich es mir nur ein oder schleift der große Schatten den kleinen Schatten?
    Ich kralle meine Finger um die Eisenstange und renne los. Im Schutz der wenigen Büsche und Gräser, die um diese Jahreszeit Deckung bieten, robbe ich über Sandhügel um den See. Unmittelbar vor der Pumpenanlage verberge ich mich hinter einem Sandhaufen und versuche, meine Augen der Dunkelheit anzupassen, um die Lage zu sondieren.
    Ich habe das Gefühl, mein Herzschlag hallt über den ganzen See, zumindest aber bis zu den beiden Gestalten vor dem Sandberg. Jetzt entdecke ich nur einen Schatten, dessen Silhouette
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