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Mordspech (German Edition)

Mordspech (German Edition)

Titel: Mordspech (German Edition)
Autoren: Oliver G. Wachlin
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da.«
    Melanie wohnt in meiner alten Bude, das schaffe ich zu Fuß. Ich muss nur erst die Zwillinge loswerden. Normalerweise gibt es da ein fest verabredetes Abschiedsritual mit viel Hutziwutz und Bussibussi – aber heute muss ein kurzer Schmatz auf die Stirn der Kinder reichen. Die sind immerhin schon im Vorschulalter und sollten verstehen, dass es auch mal schneller gehen kann, wenn Papa dringend weg muss.
    Sie verstehen es aber nicht. Sie fangen an zu plärren wie Dreijährige. Sie hängen sich an meine Jacke, wollen mich nicht ziehen lassen. Dabei sind sie fast die ältesten Kinder hier.
    Seid doch vernünftig, ihr seid doch schon soo grooß, Herrgott noch mal!
    Aber alle Appelle gehen ins Leere. Liam und Zoé wollen nicht groß sein. Sie wollen Bussibussitrallala wie immer. Also hocke ich mich hin, mache unser Abschiedsspielchen, ein Kuss links, ein Kuss rechts, noch ein Kuss links und noch einer rechts, dann Nasereiben wie bei den Eskimos und das Versprechen, nachher beim Abholen ein Eis zu kaufen. Schokoeis für Zoé und Himbeere für Liam. Je eine Kugel. Jawohl, mit bunten Streuseln drauf. Ganz großes Indianerehrenwort.
    Dann darf ich endlich gehen und nehme mir fest vor, meine Erziehungsmethoden altersgemäß anzupassen. Sonst wird das im nächsten Jahr nichts mit der Einschulung.
    Es regnet, die Straßen sind nass. Ich spanne meinen Schirm auf und biege, aus der Merseburger kommend, rechts in die Belziger ein. Am alten Postfuhramt vorbei laufe ich zügig auf die Eisenacher Straße zu und quere sie am wilhelminischen Backsteingebäude der Gustav-Langenscheidt-Schule. Sie gilt als Baudenkmal, ähnlich wie die meisten der um die Jahrhundertwende gebauten Mietshäuser hier. Hochparterre, vier Etagen, dazu viel Stuck und Pomp. Typische Berliner Gründerzeitarchitektur. Vermutlich war man nach den Krieg froh um jedes Haus, das noch stand, und stellte es rasch unter besonderen Schutz. Das ehemalige Straßenbahndepot links gilt ebenfalls als denkwürdig. Jetzt ist eine Polizeidienststelle drin. Gegenüber liegt der Heinrich-Lassen-Park und dahinter der Friedhof der Evangelischen Gemeinde mit der Schöneberger Dorfkirche. Sie stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert und ist natürlich auch denkmalgeschützt.
    Die Hausnummer 75 dagegen, ganz am Ende der Belziger Straße, an der Kreuzung Dominicus- und Martin-Luther-Straße, ist ein schmuckloser, in den fünfziger Jahren im Stile Le Corbusiers errichteter grauer Kasten. Fast sechzehn Jahre lang habe ich dort in jener kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung gelebt, die jetzt Melanie bewohnt. Schräg gegenüber steht das Schöneberger Rathaus natürlich unter Denkmalschutz, denn hier hatte sich kurz nach dem Mauerbau ein amerikanischer Präsident dazu bekannt, Berliner zu sein, weshalb die Kreuzung heute seinen Namen trägt. Die Frage ist, was die vielen Blaulichter auf dem John-F.-Kennedy-Platz zu bedeuten haben und die Menschenmenge vor meinem Haus.
    Nervös verfalle ich in schnellen Trab. Was ist da los? Polizisten drängen Schaulustige zurück und ziehen Absperrbänder. Eine Ambulanz orgelt mit Sirenengeheul an mir vorbei und stoppt. Zwei Sanitäter springen heraus und kümmern sich um eine blutüberströmte Gestalt auf dem Gehweg. Es ist Melanie. Meine Tochter!
    »Spatz«, brülle ich fassungslos und renne drauflos. »Oh mein Gott!« Ich ignoriere den Polizisten, der mich aufhalten will, und schiebe mich hektisch zwischen gaffenden Leuten hindurch.
    Platz da, verdammt noch mal! Was ist hier geschehen? Was, um Himmels willen, ist mit Melanie passiert?!
    »Der Radfahrer …«, stammelt sie schluchzend, während sie von den Sanitätern in eine Wärmedecke gehüllt wird, »Scheiße, der Radfahrer …«
    »Sind Sie der Vater?« Die Sanitäter bringen Melanie zu einem Krankenwagen.
    Ich kann nur nicken und sehe besorgt auf meine Tochter. »Ist sie schwer verletzt?«
    »Das sieht schlimmer aus, als es ist. Das meiste Blut stammt von dem da.«
    Ich folge dem Blick des Sanitäters zu einem Toten auf dem Trottoir vor dem Haus. Er liegt eigenartig verdreht in einer dunklen Blutlache und hat einen kaputten Fahrradhelm auf dem Kopf.
    »… der ist mir direkt in die Arme gefallen.« Melanie wischt sich mit ihrem blutverschmierten Ärmel über das Gesicht und schnieft. »Ich kam gerade aus dem Haus, und plötzlich …«
    »Sie steht natürlich unter Schock.« Die Sanitäter setzen Melanie in den Krankenwagen. »Wir bringen sie erst mal weg hier. Wollen Sie mit?«
    Natürlich will ich
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