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Mordspech (German Edition)

Mordspech (German Edition)

Titel: Mordspech (German Edition)
Autoren: Oliver G. Wachlin
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nördlicher gelegenen Oderbruch liefen Evakuierungsmaßnahmen für weitere zwanzigtausend Menschen.
    Mit einem Trupp freiwilliger Helfer vom Roten Kreuz, dem Arbeiter-Samariter-Bund und der Johanniter-Unfall-Hilfe stand Monika in Gummistiefeln bis zu den Knien im Wasser. Bei Hohenwutzen rutschten die aufgeweichten Schutzdeiche auf einer Länge von fast zweihundert Metern weg und mussten dringend gestützt werden. Hastig wurden Faschinen gebunden und Sandsäcke aufgetürmt. Auf der Wasserseite versuchten Kampftaucher der Bundeswehr unter Lebensgefahr, die Deiche mit Folien abzudichten. Immer wieder donnerten Tornado-Kampfflugzeuge der optischen Luftaufklärung über den reißenden Fluss hinweg. Sirenen gaben Daueralarm, sämtliche Kirchenglocken läuteten. Lautsprecherwagen der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft fuhren durch die Dörfer und forderten die Bewohner auf, ihre Gehöfte unverzüglich zu verlassen. Aus dem Altreetzer Zoo wurden alle Tiere in Sicherheit gebracht.
    »Gruppe drei: kurze Pause!«
    Es waren jeweils fünfzehn Männer und Frauen in sogenannte freiwillige Gruppen eingeteilt. Im Gegensatz zu den Soldaten im Dienst wurden den zumeist untrainierten Freiwilligen des Zivilschutzes regelmäßig kurze Pausen zugestanden, damit sie nicht zusammenbrachen. Monika gehörte zur Gruppe drei. Neben Kaffee gab es auch Bier, Wasser und Tee. Irgendwer verteilte Zigaretten und Schnaps aus dem Flachmann. Anders war das hier nicht auszuhalten.
    Monikas Hände bluteten und waren voller Schwielen. Sie konnte den Kaffeebecher kaum halten und sank erschöpft auf eine alte Obstkiste. Zum ersten Mal fielen ihr die jungen Apfelbäume auf. Sie standen auf der Wiese gleich hinter dem Deich, zarte, von Stöcken gestützte Bäumchen mit kleinen grünen Äpfeln an jedem Zweig.
    »Wenn der Deich hält«, sagte jemand, »sind sie nächsten Monat reif. Obwohl der Sommer dieses Jahr ja nicht so doll war. Augustäpfel brauchen Feuchtigkeit; na, davon gab’s genug; aber eben auch Wärme. Sonst bleiben sie grün.«
    Dann kann man sie immer noch für Apfelaromen verwenden, dachte Monika. So wie in den Achtzigern, da war das Mode: Grüne-Apfel-Seife, Grünes-Apfel-Shampoo, Weichspüler mit Grünem-Apfel-Duft. In der DDR hatte man damals offenkundig zu viel von dem Zeug produziert, da gab’s wegen absurder Planübererfüllung am Ende sogar Cola mit Grünem-Apfel-Aroma. Igitt! Es schüttelte Monika noch heute, wenn sie daran dachte.
    »Gruppe drei: Es geht weiter!«
    Von einem Laster wurden neue Sandsäcke abgeladen. Monika stand auf und packte wieder mit an. Über eine Menschenkette wurden die Säcke weitergereicht und am Deich aufgeschichtet. Eine stupide Arbeit. Und doch besser als zuschauen. Kindheitserinnerungen wurden in Monika wach. Denn ein bisschen war das hier wie der Bau einer Sandburg am Ostseestrand. War der Sand pulvrig und trocken, zerrann er in den Händen. Erst Nässe gab ihm Festigkeit. Dann konnte man ihn zu Mauern kneten, Tore bauen, Türmchen. Zu nass durfte der Sand aber auch nicht werden, dann wurde er pampig und verlor jeden Halt. Wie oft hatte Monika fassungslos zusehen müssen, wie ihr in mühsamer Arbeit errichtetes Sandschloss plötzlich in sich zusammenfiel, weil ihm eine Ostseewelle zu nah gekommen war.
    Deshalb die Säcke. Sie hielten den Sand zusammen, selbst wenn er pampig war. Und deshalb waren die Deiche mit Gras und Buschwerk bepflanzt. Das Wurzelwerk minderte die Erosion des Erdwalls bei Hochwasser und starker Strömung. Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls, denn über Monika brachen plötzlich ganze Grasnarben aus dem Deich. Ihnen folgte erst schwarze Pampe, dann bräunliche Brühe, die sich zu einem immer stärkeren Wasserstrahl entwickelte.
    Jemand schrie mit sich überschlagender Stimme nach einer Pumpe. Aber die waren schon alle im Einsatz. An zu vielen Stellen schon sogen sie das Wasser aus dem Deich. Und trotzdem war er nur noch ein einziger Berg aus teigigem Brei, der jeden Moment in sich zusammenbrechen konnte.
    »Alle zivilen Helfer zurück!« Plötzlich wimmelte es von Soldaten. In der Nähe heulte schrill ein Signalhorn auf. Auch das hatte Monika schon mal gehört. Bei der Eisenbahn benutzten es die Gleisbauarbeiter, um sich vor herannahenden Zügen zu warnen.
    »Runter von der Deichkrone«, schepperte eine Lautsprecherstimme, »alles sofort runter von der Deichkrone!«
    Eine militärisch-grün lackierte Planierraupe der Bundeswehr kletterte brüllend heran. Vorn hatte sie eine riesige
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