Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition)
Autoren: Tim Pieper
Vom Netzwerk:
die Praxis der Zeugenbefragung neue Ansätze für seine
Forschungen liefern. An den Wänden links und rechts standen Holzbänke, auf
denen mehrere Personen warteten. Als er vorbeiging, wurde gerade mit strenger
Stimme ein Herr Burfeindt aufgerufen. Otto kontrollierte die Nummern an den
Türen, bis er das richtige Büro gefunden hatte. Kräftig klopfte er an und trat,
nachdem jemand »Herein« gerufen hatte, ein.
    Commissarius Funke
erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und kam ihm entgegen. Er war mittleren
Alters, vielleicht fünfzig, und hatte auffallend dichte blauschwarze Haare.
Vermutlich trug er eine Perücke. Seine Krawattennadel und die Manschettenknöpfe
waren mit funkelnden violetten Edelsteinen besetzt. Eine Duftwasserwolke umgab
ihn. Im obersten Knopfloch steckte ein Bändchen, das ihn als Veteran des
Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 auswies.
    Die Männer
schüttelten einander die Hand und tauschten Höflichkeiten aus: Otto sagte, wie
glücklich er sich schätze, an einem so bedeutenden Fall mitwirken zu dürfen,
und der Commissarius entgegnete, die Freude sei ganz auf seiner Seite, denn
noch nie hätte ihn eine so prominente Hilfskraft unterstützt.
    Im Stehen stürzte
Funke eine Tasse Kaffee hinunter, die verdächtig nach Cognac roch, und sagte
dann: »Kommen Sie, mein Lieber. Es wird Zeit, dass wir anfangen.«
    Auf dem Korridor
gingen sie nach rechts und traten in das Verhörzimmer. Es war vollkommen kahl:
Es gab keine Vorhänge, keine Bilder und keine Grünpflanzen, nur einen Tisch mit
vier Stühlen.
    Der Commissarius
blieb an der Tür stehen und deutete auf eine Mappe, die auf dem Tisch lag. »Sie
können schon mal meine Aufzeichnungen durchblättern. In der Zwischenzeit halte
ich nach Fräulein Dürr Ausschau.«
    Otto erkannte
schnell, dass die Unterlagen von außerordentlicher Qualität waren. Als Erstes
fiel ihm die Tatortskizze auf. Wenn sie von Funke stammte, war er ein wahrer
Künstler. Die Zeichnung war nicht nur plastisch, sondern auch sehr realistisch.
Sie gab jeden Fußstapfen und jedes auf dem Boden liegende Blatt wieder. Nur das
Opfer war reichlich verklärt dargestellt. Funke hatte der Handschuhnäherin
etwas Madonnenhaftes verliehen.
    Rasch überflog
Otto die übrigen Aufzeichnungen: eine Auflistung der Gegenstände, die man am
Tatort gefunden hatte. Eine Erklärung des Arztes, dass die Frau bis zur
Unkenntlichkeit verbrannt war und dass die Identifizierung nur wegen eines
Knochenbruchs aus Kindertagen möglich gewesen war. Eine Aufzählung von
Personen, die sich auf eine Zeitungsanzeige hin gemeldet hatten und die
angeblich sachdienliche Hinweise machen konnten. Eine Erörterung der Frage, ob
der Täter Ortskenntnis besessen hatte. Eine detaillierte Zeichnung zweier
Fußabdrücke – der Schuh wies ein auffälliges Kreuzprofil auf – sowie den
Vermerk, dass vor Ort Gipsabdrücke angefertigt worden waren.
    Otto wusste, dass
sich die meisten Kriminalbeamten nur Daten, Namen und Adressen notierten. Sie
verließen sich auf ihren Instinkt. War ein Täter überführt, schrieben sie einen
Schlussbericht, der die Staatsanwaltschaft über den Tatbestand informierte.
Selten waren diese Berichte länger als ein oder zwei Seiten.
    Otto verstand nun,
warum man Funke mit dem schwierigen Fall betraut hatte. Obwohl er ein
Exzentriker zu sein schien und möglicherweise zu viel Alkohol trank, offenbarten
seine Aufzeichnungen einen klaren Geist. Jeder seiner Schritte war
nachvollziehbar.
    »Würden Sie bitte
die Tür hinter sich schließen, meine Liebe?«, fragte Funke und ging durch den
Raum. »Bitte.« Er deutete auf einen Stuhl.
    Die Zeugin setzte
sich und hob den Kopf.
    Als Otto sie
anschaute, traute er kaum seinen Augen. Ihre hellblonden Haare waren
zurückgekämmt und im Nacken zu einem Dutt geknotet, der durch ein schwarzes
Haarnetz gehalten wurde. Ihre Augen waren von einem strahlenden Saphirblau.
Ihre dunkelroten Lippen standen in auffälligem Kontrast zu der hellen,
sommersprossigen Haut. Sie trug eine schlichte schwarze Bluse und einen ebenso
schlichten schwarzen Wollrock. Auf ihrer Brust ruhte ein kleines silbernes
Kreuz. Sogar die Art, wie sie die Hände im Schoß faltete, kam ihm vertraut vor.
    Die Ähnlichkeit
war erschreckend.
    »Das ist Herr Dr.
Sanftleben«, sagte Funke und legte sich ein Blatt Papier zurecht. »Er
unterstützt unsere Ermittlungen. So, dann fangen wir mal an! Zunächst stelle
ich einige Fragen zu Ihrer Person.«
    Die Frau tastete
die spärliche Einrichtung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher