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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition)
Autoren: Tim Pieper
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Wissen
Sie, dass Elvira Krause der Apostolischen Gemeinde angehörte?«
    »Ich weiß, dass
sie sich mit anderen Christen traf. Elvira wollte mehrmals, dass ich sie
begleitete. Die Menschen wären so warmherzig, meinte sie. Ich habe gesagt, dass
ich es mir überlege. Das ist alles, was ich über die, äh …«
    »Apostolische
Gemeinde«, half der Commissarius ihr weiter. »Das ist eine Weltuntergangssekte.
Sind Sie sich absolut sicher, dass Elvira Krause kein Verhältnis mit einem Mann
hatte?«
    Friederike Dürr
presste die Lippen aufeinander, sah aus dem Fenster und nickte heftig.
    »Vorerst habe ich
keine weiteren Fragen«, sagte Funke. »Sie können gehen, meine Liebe. Wenn Sie
Durst haben, finden Sie in der Eingangshalle einen Trinkbrunnen. Auf
Wiedersehen.«
    Die Zeugin stand
auf und knickste. »Auf Wiedersehen, Herr Kriminalrat.« Sie suchte Augenkontakt
mit Otto. »Auf Wiedersehen, Herr Doktor.« Dann eilte sie hinaus.
    Der Commissarius
sah ihr nach und schraubte den Füllfederhalter zu. »Irgendetwas stimmt mit dem
Mädchen nicht. Was glauben Sie, Herr Doktor? In dem Kapitel ›Somatisches
allgemein‹ schreiben Sie, dass sich jede Geistesregung auf den Körper auswirkt.
Allerdings geben Sie zu bedenken, dass die Ausprägung der Symptome und ihre
Verifizierbarkeit von der individuellen Veranlagung der Person abhängen.«
    »Das ist richtig«,
sagte Otto und versuchte, sich endlich zusammenzureißen.
    »Als ich Fräulein
Dürr fragte, ob Elvira Krause ein Verhältnis hatte, spreizte sie den kleinen
Finger ihrer rechten Hand ab. Haben Sie es bemerkt? Wenn ich mich recht
erinnere, haben Sie dieses Phänomen beschrieben.«
    »Viele Lügner
können zwar ihre Mimik kontrollieren«, erwiderte Otto, »aber sie vergessen den
übrigen Körper. Manche schlagen, wenn sie etwas verbergen, die Beine
übereinander, andere spreizen den kleinen Finger ab, wenn sie von der Wahrheit
abweichen. Ich nenne dieses Phänomen den verräterischen Nebeneffekt.«
    »Genau. Und
deshalb glaube ich, dass Fräulein Dürr uns ein wesentliches Detail verschweigt.
Ich glaube sogar, dass sie ein Geheimnis hat.«

Auf dem Dachboden von »Klein-Sanssouci«
    Gleich nach seiner
Rückkehr vom Polizeipräsidium stieg Otto die Treppenstufen empor und blieb vor
der Dachbodentür stehen. Sollte er die Vergangenheit wirklich heraufbeschwören?
Sollte er eintauchen in eine Zeit, die ihm nichts als Kummer bereitet hatte?
Oder sollte er die alten Geschichten ruhen lassen? Sollte er die Augen
verschließen und bis zum Ende seiner Tage vergessen, was er gesehen hatte?
    Während sich Otto
den verspannten Nacken massierte, beschlich ihn das Gefühl, dass er vielleicht
gar keine Wahl hatte. Früher oder später würde er wieder vor der gleichen
Entscheidung stehen. Ja, plötzlich war er sich sicher, dass er erst Frieden
finden würde, wenn er sich noch einmal der Vergangenheit stellte.
    Er riss ein
Zündholz an, hielt es an den Docht der Petroleumlampe und betrat den Dachboden.
Im Schein der Lampe tauchten ausgemusterte Schränke, alte Gemälde, Koffer, zwei
Bettgestelle, diverse technische Apparaturen seines Bruders, Bücher und Studienunterlagen
auf.
    Otto hatte sich
nach Kräften bemüht zu vergessen, was hier oben lag. Trotzdem wusste er sofort,
wohin er sich wenden musste. Um sich nicht zu stoßen, zog er den Kopf ein und
ging den Mittelgang hinunter. Der Staub kitzelte in seiner Nase und ließ ihn
herzhaft niesen.
    Durch das
Treppenhaus klang leise Musik herauf. Wie jeden Abend saß Moses am Flügel und
stimmte ein Auswandererlied von Lizius an. »Lebt ewig wohl, ihr lieb geword'nen
Räume, / Ihr grünen Täler und ihr blauen Höh'n! / Hinab mit euch ins Reich
wehmüt'ger Träume! / Die Segel schwellen und die Winde weh'n …«
    Normalerweise
erstaunte es Otto, wie gefühlvoll der Junge singen konnte. Für ihn blieb es ein
Rätsel, wie diese Stimme mit seiner rebellischen, beinahe feindseligen Haltung
zusammenpasste. Doch heute fehlte Otto zu solchen Überlegungen die innere
Ausgeglichenheit. Das Lied verstärkte nur seine eigene Melancholie, die ihn
seit der Vernehmung im Polizeipräsidium nicht mehr losgelassen hatte.
    Am Ende des
Mittelganges bog Otto nach rechts ab, duckte sich unter einem niedrigen Balken
hindurch und kniete sich in den Taubendreck. Die Spinnweben, die sich in seinem
Haar verfingen, bemerkte er nicht. Er hatte nur Augen für die Seemannskiste.
    Hastig öffnete er
das Messingschloss und klappte den Deckel zurück. Mehrere Bündel
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