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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition)
Autoren: Tim Pieper
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Conrad gegründet worden war. Obwohl die
Gegend im Winter verlassen gewesen war, hatte sich Otto hier sofort heimisch
gefühlt. So hatte er seinem Vater, dem neben der Manufakturwarenhandlung
Sanftleben & Comp. zwei Eisenhüttenwerke in Schlesien gehörten, die vom
Großvater geerbten Anteile am Familienunternehmen im Tausch gegen das Anwesen
angeboten. Dieser hatte dem Handel nicht nur zugestimmt, sondern ihm außerdem
eine großzügige Apanage bewilligt. Seitdem gehörte »Klein-Sanssouci«, wie Otto
die Villa liebevoll nannte, ihm.
    Der Garten, der
erst vor Kurzem mit zahlreichen Blumenbeeten, Spazierwegen und einem
Springbrunnen neu gestaltet worden war, fiel leicht zum westlichen Ufer des
Großen Wannsees ab. An diesem Morgen blies ein frischer Wind aus nordwestlicher
Richtung und raute die Wasseroberfläche auf.
    Auf dem
Bootsanleger hatte Otto seinen Rover-Trainier-Apparat aufbauen lassen. Dabei
handelte es sich um ein stabiles Holzgestell, auf dem ein Rad stand, ohne mit
den Reifen den Boden zu berühren. Otto hatte den stärksten Tretwiderstand eingestellt.
Seine Beine pumpten wie Dampfkolben, sein Atem ging gleichmäßig. Er war so gut
in Form wie nie zuvor in seinem Leben. Am 3. August würde er beim
Meisterschaftsfahren von Deutschland antreten, um eine alte Rechnung zu
begleichen. Er trainierte so verbissen, dass er nicht hörte, wie sich jemand
von hinten näherte.
    »Ein Bote hat das
abgegeben«, sagte sein Leibdiener Moses und wedelte mit einem Umschlag.
    Moses Katouje war
siebzehn Jahre alt und in Deutsch-Südwestafrika geboren worden. Sein Vater war
ein angesehener Viehzüchter vom Stamm der Hereros gewesen, der zusammen mit der
restlichen Familie von Hottentotten massakriert worden war. Nur Moses hatte
überlebt, durch schieren Zufall, weil er gerade am Fluss Wasser geschöpft
hatte. Kinderlose Missionare aus Hamburg hatten ihn aufgenommen und die
deutsche Sprache gelehrt. Als Otto auf seiner Afrikareise in der Mission
Station gemacht hatte, hatte man ihn gebeten, den äußerst begabten Jungen mit
nach Deutschland zu nehmen. Wenn Otto damals gewusst hätte, dass sich aus dem
sanften, traurigen Jungen ein rebellischer Jüngling entwickeln würde, hätte er
seine Entscheidung sicherlich noch einmal überdacht.
    Otto drückte sich
vom Lenker hoch und sagte: »Bevor man in medias res geht, begrüßt man einander.
Das ist ein Zeichen von Höflichkeit.«
    Moses verdrehte
die Augen und streckte ungeduldig den Umschlag in seiner Hand vor. »Nun mach
schon. Hier.«
    Otto bereute
wieder einmal, dass er dem Jungen das »Du« erlaubt hatte, als dieser beim
Deutschlernen mit den Anredeformen Schwierigkeiten gehabt hatte. Eigentlich
erwartete er keinen Brief und war neugierig, wer ihm eine Nachricht schickte.
Trotzdem ließ er sich nicht hetzen – und schon gar nicht von seinem Leibdiener.
In aller Seelenruhe stieg er vom Rover-Trainier-Apparat und trocknete sein
verschwitztes Gesicht mit einem Handtuch ab. »Fangen wir noch einmal an. Guten
Morgen, Moses.«
    »Nie kann ich es
dir recht machen.«
    »Guten Morgen,
Moses.«
    »Also gut – wenn
du dich dann besser fühlst. Guten Morgen, Otto.«
    Otto nahm den
Brief entgegen. »Wer hat ihn gebracht?«
    »So 'n Diener von
so 'nem Kommerzienrat.«
    »Geht das auch in
einem vollständigen Satz?«
    »Ja-ha! Der Diener
von einem Herrn Kommerzienrat hat den Brief abgegeben.«
    Otto öffnete den
Umschlag. Von Vitell? Was konnte er wollen? Nachdem Otto den Brief gelesen
hatte, blickte er verwundert auf. Der Kommerzienrat bat ihn, an den
Vernehmungen im Kreuzigungsfall teilzunehmen. Heute würde die erste Zeugin,
eine gewisse Friederike Dürr, befragt werden. Der zuständige Beamte, Commissarius
Funke, sei unterrichtet worden. Und vonseiten des Kriminaldirigenten seien
keine Einwände zu erwarten, das habe er geregelt, schrieb Vitell in einem PS am Ende des Briefs.
    Otto legte sich
das Handtuch um die Schultern und dachte: Irgendjemandem liegt wirklich viel
daran, dass ich die Ermittlungen unterstütze.

Im Polizeipräsidium
    Das neue
Polizeipräsidium lag am Alexanderplatz. Nach dem königlichen Schloss und dem
Reichstag war es das drittgrößte Gebäude Berlins. Eine Übersichtstafel im
Eingangsbereich informierte den Besucher, dass die IV .
Abteilung einen großen Teil des Erd- geschosses und des ersten sowie zweiten
Stocks des Frontgebäudes einnahm.
    Otto ging durch
die Halle und bog in einen Korridor ab. Er war voll gespannter Erwartung.
Möglicherweise würde ihm
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