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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin
Autoren: Frederica de Cesco
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nicht. Es gab eben Kinder, die nicht gewöhnt waren, Schuhe zu tragen, und Kinder, für die sich alles in einer anderen Welt abspielte, für ihn so unerreichbar wie der Mond. Diese Kinder kauften sich Eis und Süßigkeiten am Kiosk, sie hatten eine Busfahrkarte, oder ihre Eltern brachten sie mit dem Auto zur Schule. Sie lebten in großen Wohnungen, hatten warme Kleider im Winter, wuschen sich die Hände vor dem Essen, schliefen in sauberen Laken. Giovanni beobachtete diese schattenhaften Kinder, zu denen er nicht gehörte, und erlebte das alles in einer Durchsichtigkeit, die er mit Fantasien füllte. In ihm war nichts endgültig verschlossen. Er wartete darauf, sich zu entwickeln. Er war so feinfühlig, dass er eine Beleidigung spürte, und großmütig genug, um sie zu verzeihen. Daraus ergaben sich ungestillte Bedürfnisse, unmögliche Wünsche und sonderbare Manien: Er buchstabierte gierig die Wegweiser am Straßenrand, studierte die Fahrpläne sämtlicher Autobusse, hob jeden Papierfetzen auf, und wenn nur etwas Gedrucktes darauf stand, las er die Zeitungsblätter, die er aus Mülleimern fischte und mit der flachen Hand glatt strich. Sein Sinn für Reinlichkeit und Ordnung war übergroß. Er wusch täglich Hemd und Unterhose, zog sie morgens an, wenn sie noch klamm waren. Er schlief nie ein, bevor seine Mutter dafür gesorgt hatte, dass die Dinge um ihn herum an der richtigen Stelle lagen und keinen Zentimeter daneben. Kaum zehnjährig, war Giovanni sich bereits der Welt der Auswahl bewusst, einer Auswahl, die nur nach dem Gesichtspunkt des sozialen Standes getroffen wird. Und sah sich gezwungen, seine Träume und Sehnsüchte mit dem Preis, mit der Last der Einsamkeit zu bezahlen.
    Er sagte leise und unglücklich: »Sie werden nicht mit mir gehen wollen!«
    »Aber das kannst du ja gar nicht im Voraus wissen.«
    Er zog traurig die Schultern hoch.

    »Ich weiß es aber.«
    »Hör zu«, sagte ich. »Im Paola Square, vor der Kirche, steht ein Springbrunnen. Du kannst ihn nicht verfehlen. Ich wohne ganz in der Nähe. Morgen Nachmittag haben wir schulfrei. Komm um drei, da sind meine Eltern schon weg.«
    »Weil du nicht willst, dass sie dich mit mir sehen?«
    »Bist du blöd!«, gab ich ärgerlich zur Antwort. »Weil sie nicht wissen sollen, dass wir zu den Toten gehen. Die Eltern von Vivi und Peter auch nicht. Sonst würden sie es uns verbieten. Darum erzählen wir nie etwas davon. Es ist unser Geheimnis.«
    »Und wenn ich nicht dabei sein darf?«
    Er blieb misstrauisch. Ich verstand das nicht. Da machte ich es wie immer, wenn ich nichts mehr zu sagen wusste, kehrte meine unangenehme Seite hervor und sagte mit herablassender Sicherheit:
    »Dann wartest du eben umsonst!«
    Er fuhr wie vor einem Schlag zurück. Sein Gesicht wurde straff und abweisend. Eine dunkle Flamme flackerte in seinen Augen auf. Er war gekränkt. Das hatte ich nicht gewollt. Giovannis Lippen waren zusammengepresst, sie schienen ganz hart geworden. Doch gelang es ihm nicht, ein leichtes Zittern zu verbergen. Dies zu sehen, tat mir weh. Ich sagte versöhnlich:
    »Aber das macht nichts. Auch wenn sie nicht wollen, sind wir jetzt doch Freunde?«
    Giovanni ließ mich nicht aus den Augen. Er schien völlig versunken, wie versteinert.
    »Nun sag doch was!«, rief ich ungeduldig.
    Mit einem Ruck bot mir Giovanni die Stirn. Ich dachte, er würde mich anschreien, aber nein. Er zwang sich die Worte aus der Lunge, sie kamen so weich und leise heraus, dass ich meinte, sie geträumt zu haben.
    »Ich habe keine Freunde. Du bist genau wie die anderen.«
Wer heute das Hypogäum in Hal Saflieni besichtigt, erlebt eine Überraschung nach der anderen. Die angemeldeten Besucher – nur immer in Gruppen von zehn – erfasst eine sonderbare Stimmung, wenn sie in einer normal belebten Straße vor einer Haustür stehen, die wie alle anderen aussieht. Nur eine kleine Tafel, seitlich angebracht, markiert den Ort. Die Besucher betreten zunächst die Vorhalle mit der Eintrittskasse. Danach kommt ein zweiter Raum, in dem die Geschichte, die Entdeckung und die Erforschung der Grabkammern an Schautafeln dargestellt wird. Es gibt eine Videovorführung mit Erklärungen in verschiedenen Sprachen. Dann erst beginnt die eigentliche Besichtigung. Sie ist wohl ähnlich, wie man es sich erwartet hatte, aber doch um vieles eindrücklicher, geheimnisvoller und gewaltiger.
    Die Arbeiten zum Schutz dieses Ortes hatten viele Jahre in Anspruch genommen. Beleuchtungs- und Klimaanlagen wurden
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