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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin
Autoren: Frederica de Cesco
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angebracht, Stufen eingebaut, das Kanalisationssystem und die Zisterne gesichert. Als ich Kind war, gab es das alles noch nicht. Die alten Häuser bewahrten ihr Geheimnis. Und die Geister der Toten waren gut zu uns. Auch wenn wir unser Leben mehrmals in Gefahr brachten, die Toten sorgten dafür, dass uns nichts Böses geschah. Sie mögen uns eben sehr, sagte Vivi, die solche Dinge wusste.
    Vor mehr als einem Jahrhundert hatte ein Pater, auf der Suche nach archäologischen Denkmälern, unter den Häusern die Reste eines Friedhofs aus vorchristlicher Zeit ausgemacht. Pater Magri wühlte in der Erde, legte Knochenteile und Keramikscherben frei, die man den Toten als letzte Gabe beigelegt hatte. Er fand auch Schmuck: Perlen und Amulette aus poliertem Metall und Halbedelsteine, kleine geschnitzte Tiere und Vögel. Die »heidnischen Funde« lösten zunächst eine leichte Verstimmung aus. Viele hielten sie für gänzlich wertlos. Am Ende wurden die Sachen im archäologischen Museum untergebracht. Pater Magri war es auch nicht gegeben, weiterzumachen,
weil er bald darauf Malta als Missionar verließ. In dieser Zeit steckte die Steinzeitforschung noch in den Kinderschuhen, die Religion stand haushoch im Weg, und rings um sie lag das Wissen brach. Ein Mann jedoch ließ sich von den finsteren, warmtrüben Tiefen behexen: Dr. Themistocles Zammit, der wohl bedeutendste einheimische Archäologe, hatte sein Wissen weitgehend als Autodidakt erworben. Dr. Zammit, übrigens ein Großonkel meines Vaters, machte sich ab 1910 mit anderen Gelehrten ans Werk, arbeitete unvoreingenommen und zielstrebig, ohne Hast und sehr sorgfältig. Er machte Aufzeichnungen, stellte eine Art Chronologie auf, immer mit der Absicht, aus den Entdeckungen eine zusammenhängende Geschichte zu bilden. Der Erste Weltkrieg mit seinen Restriktionen setzte den Ausgrabungen ein vorläufiges Ende. Schweren Herzens veranlasste Dr. Zammit, dass die rote Erde, ohne die Knochen und Grabbeigaben, die im archäologischen Museum blieben, wieder in die Kammern gebracht wurde. Im Krieg diente die große Zisterne im Vorraum der Grabkammern, die mit ihren wuchtigen Pfeilern aus dem Fels geschnitten war, als Wasservorrat für die Bevölkerung; sie war noch bis zum Zweiten Weltkrieg in Gebrauch. Dann wurde die Grabstätte verschlossen und vergessen.
    Doch es gab Wege, die in die Tiefe führten. Sie zu finden und hineinzukriechen war für Kinder das Einfachste auf der Welt. Wir waren so oft hier gewesen, dass wir uns in allen Gängen und Kammern zurechtfanden. Licht fiel durch kleine oder größere Löcher; mehr brauchten wir nicht. Wir wussten, dass wir etwas Gefährliches und Verbotenes taten. Aber nichts hätte uns davon abbringen können, es wieder und wieder zu tun. Das Reich der Toten war unsere Welt und unser Geheimnis, kostbar und verschwiegen.
    Und wir hatten an jenem Tag, nach der Schule, lange und heftig miteinander gestritten. Wir stritten oft und ungeniert, wie Bäume von einem heftigen Wind geschüttelt werden. Wir
maßen unsere Kräfte, bangten, litten, hofften dabei; zuallerletzt verfielen wir in atemlose Heiterkeit. Das offenbar und Ähnliches war es, womit wir unsere Freundschaft festigten. Und es war ausgegangen wie immer: Die Beharrlichste setzte ihren Willen durch. Aber diesmal musste sie ein Opfer bringen.
    »Auf dich ist einfach kein Verlass!« Peters Vorwürfe prasselten wie Kiesel auf mich ein. »Wir kennen den anderen Jungen nicht. Ich wette, der kann seinen Mund nicht halten. Und wenn der redet, drehe ich dir den Hals um!«
    »Ein Geheimnis muss man für sich behalten«, sagte Vivi. »Sonst wird das Geheimnis böse!« Vivi sagte oft sonderbare Dinge, ähnlich unverständlich wie die Texte, die wir im Unterricht lesen mussten. Es klang wie purer Quatsch, ohne Zusammenhang. Die Tiefgründigkeit war irgendwo, aber wir konnten sie nicht wahrnehmen. In der Schule hielt Vivi sich zurück, machte ein einfältiges Gesicht; sie hatte schnell gemerkt, dass ihre Bemerkungen bei den Lehrern auf Ablehnung stießen.
    »Ein Geheimnis kann nicht böse werden!«, sagte ich verärgert zu ihr.
    »Doch!« Vivi zog hüpfend einen Kreis. Sie wirkte zerbrechlich wie ein Vogel. Ihr Haar fiel herunter, und die hellrote Schleife, die sie trug, hing auf ihrer Schulter.
    »Wir gehen einfach nicht hin.« Im Gegensatz zu Vivi hielt sich Peter steif wie ein Stock. Er stieß beim Sprechen leicht mit der Zunge an, wofür ihn die Mutter tadelte. »Dann wartet er umsonst und kommt kein
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