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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin
Autoren: Frederica de Cesco
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Geizkragen, drehte jede Münze um, ein Despot, ungebildet, schmutzig, anmaßend, der Frau und Kinder, auch Giovanni, seinen Jüngsten, erbarmungslos quälte. In der Umgebung wohnten noch andere Verwandte mit zahlreichen ungepflegten Kindern. Es war eine Art Großfamilie, unzivilisiert und verrufen. Die Töchter machten den Männern Glutaugen. Die Söhne, Rebellen gegen jede soziale Ordnung, kamen in regelmäßigen Abständen hinter Gitter. Mario, der Älteste, hatte sich bereits seine eigene Lebensregel geschaffen und schickte afrikanische Huren auf den Strich.
    Clantreue, Rachedurst und Ehrbegriffe aus dem Mittelalter hielten die Familien zusammen oder ließen sie in Fehden zerplatzen, die Jahrzehnte überdauerten und gelegentlich Tote forderten. Ein Netz von Mitwissern schützte die Übeltäter, und Geldgier war stets die antreibende Kraft. Schlimme Verhältnisse also. Bemerkenswert war, dass Giovanni ganz ruhig davon sprach. Wer die Schwere seines Unglücks ermessen wollte, musste zunächst das böswillige und unversöhnliche Umfeld erkennen, in dem sich seine Kindheit abspielte. Jung, wie er war, hatte er die seltsame Gabe, die Dinge zwar so zu sehen, wie sie waren, sich jedoch von ihnen nicht berühren zu lassen, sie einfach zum Absoluten des Sonderbaren
zu machen. Es war, als betrachtete er eine Fata Morgana, an deren Wirklichkeit er nicht einen Augenblick lang glaubte. Der Vater schlug ihn, die Brüder schlugen ihn, ja, sogar die Schwestern. Giovanni ertrug die Schläge, als ob er gar nichts verstand. Grausamkeiten schienen ihn begriffsstutzig zu machen, er fasste nur vereinzelte Tatsachen auf, war unschuldig und melancholisch. Seine besondere Art der Unangreifbarkeit bewirkte, dass er für Gemeinheiten schlecht ausgestattet war. Er wehrte sich nicht – noch nicht. Erst viele Jahre später würde er fähig sein, seine blinde Unschuld, seine lähmende Frustration, zu zerschlagen.
    »Gehst du gerne zur Schule?«, hatte ich ihn an diesem Tag gefragt. Er hatte sein schnelles, leuchtendes Lachen gezeigt, ein Lächeln, das sich tief in meinem Augenhintergrund einprägte.
    »Onkel Antonino sagt, wenn ich weiter so gut bin, darf ich auf die Höhere Schule.«
    Er erzählte mir, dass er die zweite Schulklasse überspringen konnte und gleich in die dritte Klasse aufgenommen worden war. Auch wollte sein priesterlicher Onkel, dass er die Schule wechselte; er sollte mit »besserer Leute Kinder« auch bessere Möglichkeiten im Unterricht haben. Wir sind die Geschöpfe unserer Herkunft; die Herkunft diktiert unser Verhalten und Denken in dem Maße, in dem wir für sie empfänglich sind. Man muss viel Selbstbewusstsein haben, um sich von seiner Herkunft zu lösen. In seinem primitiven, abgeschlossenen Familienkreis hatte Giovanni eine ungewöhnliche Ehrfurcht vor dem Lernen entwickelt. Das geschriebene Wort war für ihn von nahezu magischer Bedeutung. Als er dann tatsächlich zu uns in die Klasse kam, fiel das auf. Giovanni war immer höflich zu den Lehren, widersprach nie, gab mit fester Stimme klare Antworten. Er war klug, und das war in den Augen seiner Mitschüler ein schlimmes Übel. Es war etwas an ihm, das sie reizte und ihnen den Wunsch einflößte, ihn zu
erniedrigen. Selbst wenn er still an seinem Platz saß, spürten sie seine Andersartigkeit und hassten sie. Giovannis Gesicht war leer und steinern, und er hatte einen fernen, stolzen Blick, der ihn unzugänglich machte. Er hatte eine kindliche Geradheit, etwas von der Einfalt und Unberechenbarkeit eines Naturwesens. Die Schüler prügelten sich oft, auch wenn sie sich innerhalb des häuslichen Bezirkes recht wohlerzogen benahmen, aber an Giovanni wagten sie sich nicht zu vergreifen. Er weckte den Sadismus, den sie in sich trugen, und sie hätten ihn gerne gequält, aber sie fürchteten sich vor ihm. Es hatte sich schnell herumgesprochen, wer er war.
    Noch heute sehe ich die helle, gewölbte Treppe, die blank geputzten Gänge, an denen die Schulzimmer lagen; schlichte Zimmer mit vergitterten Fenstern, die an frühere Klöster erinnerten. Über der Tafel hing ein großes Kruzifix. Durch die Fenster sah man das Grün eines Gartens und einen tiefblauen Himmel, an dem im Oktober die Zugvögel ihre wandernden Dreiecke zogen. Giovanni verharrte unbeweglich und steif auf seinem Platz neben diesem Fenster. Die Stimme des Lehrers – wir hatten nur eine einzige Lehrerin, die Malunterricht gab – hallte in der Stille wider. Giovannis Schuluniform war immer sauber, sein Hemd
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