Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin
Autoren: Frederica de Cesco
Vom Netzwerk:
sich mir aus seiner Wirklichkeit ein festes Band entgegenstreckte, an dem ich mich mit klopfendem Herzen entlangtastete.
    In der Nacht hatte es geregnet, in einer Vertiefung auf dem Stein hatte sich Wasser angesammelt. Eine Kolonne von Ameisen erklomm den Stein und kletterte hinüber, doch das Wasser versperrte ihnen den Weg, und eine fiel hinein. Der Junge hatte ganz schwarze Haare, die ihm strubbelig über die Stirn fielen, und mandelförmige Augen, schwarz mit einem violetten Schimmer.
    »Ameisen sind älter als Menschen«, sagte er. »Hast du das gewusst?«
    »Du meinst, hundert Jahre alt?«
    Er schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen.
    »Nein, sie waren schon da, als es überhaupt noch keine Menschen gab. Und sie denken fast wie wir.«
    Der Junge machte einen vernachlässigten Eindruck, drückte sich aber nicht wie ein gewöhnliches Bauernkind aus. Obwohl wir beide Malti sprachen, die Sprache des einfachen Volkes, formte er seine Sätze ebenso gut wie ich. Vielleicht sogar besser.

    »Woher weißt du das?«, fragte ich.
    Er antwortete schlicht.
    »Von Onkel Antonino.«
    »Was ist er denn? Lehrer?«
    »Nein, er ist der Priester der St. Gilian’s Church.«
    Der Junge deutete vage auf das hügelige Häusermeer. Jeder Hügel trug eine Kirche, und alle Kirchen sahen gleich aus. Ich wandte uninteressiert die Augen ab. Meine Aufmerksamkeit war auf den Jungen gerichtet, auf ein eigentümliches Merkmal in seinem Gesicht. Die Brauen über den Wangenknochen waren schwarz und hochgeschwungen, und senkrecht durch die rechte zog sich ein Streifen weißen Flaums. Wie ein kleiner Schwalbenflügel sah das aus. Ich starrte ihn an, neugierig und ziemlich vermessen, was der Junge nicht zu bemerken schien. Er hielt einen Grashalm in der Hand, fischte die Ameisen aus dem Wasser und hob sie behutsam auf trockenen Boden.
    »Es ist sehr schwierig, Ameisen mit den Fingern aufzuheben, ohne sie zu zerquetschen.«
    »Einige sind schon so gut wie tot«, meinte ich.
    »Fast«, sagte er, »aber noch nicht ganz.«
    Nach einer Weile geschah etwas Merkwürdiges: Die sich vorantastenden Ameisen schien, irgendwie erfahren zu haben, dass das Wasser für sie gefährlich war. Sie tapsten nicht mehr blindlings hinein, sondern machten einen Bogen, sobald sie über den Steinrand kamen, und krabbelten an dem Hindernis vorbei.
    Der Junge nickte mir zu.
    »Da, siehst du, wie schlau sie sind? Sie wissen jetzt, dass sie hier oben ertrinken können, und sagen es den anderen.«
    »Reden sie denn auch?«
    »Ja, aber anders als wir. Sie geben sich irgendwelche Signale. Unter der Erde gibt es ja viele Tausende. Und sie kennen sich alle.«
    Ich bezweifelte keinen Augenblick, was der Junge sagte. Seine
Stimme war kehlig, erstickt, als ob er zu mir durch eine Muschel sprach. Auch später, in der Pubertät, sollte er diesen tiefen Ton behalten, der seine Stimme so fesselnd machte. Es war schon gegen Mittag, das Licht fiel senkrecht vom Himmel. Nur dann und wann knackte ein Zweig, eine Eidechse huschte vorbei, und manchmal warf eine ziehende Wolke einen Schatten. Noch heute, wenn ich an diesen Augenblick denke, überläuft mich am ganzen Körper eine Gänsehaut. Denn zum ersten Mal empfand ich mit wachem Bewusstsein den tiefen, körperlichen Eindruck meines Lebendigseins. Ich spürte den fließenden Übergang der Momente, das Gleiten der Jetztzeit, das Kinder für gewöhnlich nicht wahrnehmen. Dieser Augenblick, der alle anderen einschließt, kehrt ewig wieder. Wir fangen diesen Zeitmoment ein, in all seinen Farben und Empfindungen; er ist ein Geschenk, das wir im Herzen tragen, ein Leben lang.
    »Wie heißt du?«, fragte ich den fremden Jungen.
    »Giovanni.«
    Es war mir von vornherein klar gewesen, dass er nicht Tomaso heißen konnte. Ich hatte meinen Phantombruder auch nur so genannt, weil er ja namenlos geblieben war. Aber Kinder glauben an Wunder. Hätte Giovanni gesagt, er hieße Tomaso, wäre ich nicht im Geringsten überrascht gewesen.
    »Ich bin Alessa«, sagte ich zu ihm, und nach kindlicher Art fügte ich gleich eine Herausforderung hinzu. »Mein Vater ist Professor, Mitglied der Alternattiva Demokratika .« Zwischen den beiden traditionellen Regierungsparteien Maltas war die neue AD-Partei zunehmend in der Lage, sich als dritte politische Kraft im Land zu behaupten. Die AD sah ihr Wählerpotenzial hauptsächlich in der intellektuellen Jugend. Meine Eltern redeten fast täglich darüber. Altklug, wie ich war, bekam ich alles mit.
    Doch Giovanni zog nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher