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Mondschwingen (German Edition)

Mondschwingen (German Edition)

Titel: Mondschwingen (German Edition)
Autoren: Jasper Sand
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nicht mehr als ein gesichtsloser Schemen, der nur ab und zu auftauchte,
um sofort wieder zu verschwinden.
    „Sie liebte Geschichten, sie verschlang
Buch um Buch, damals stahl ich sie noch selbst, als ich noch alle Zehen am Fuß
hatte.“ Er wackelte mit den Füßen und lachte heiser. Er hatte schon lange nur
sieben Zehen, drei hatte er verloren, als ein vollbeladener
Karren über seine Füße gefahren war. Mit seinem verstümmelten Fuß war er
ein erbärmlicher Dieb, der weder schnell fliegen noch schleichen konnte.
    „Kaum ein Tag verging, ohne dass sie in
eines der Bücher blätterte. Sie verlange oft, dass ich ihr vorlas, doch sie
selbst war die beste Vorleserin, sie war noch viel besser als ich. Sie hatte so
eine eigenartige Stimme, so leise und doch laut genug, dass jeder sie hörte.
Wenn sie eine der Personen aus den Büchern sprach, dann klang es so echt,
obwohl sie die Stimme nicht verstellte. Sie hätte ein Geschichtenerzähler sein
sollen, nicht ich.“
    Mortis sah nicht mehr heiter aus. Es kam
selten vor, dass er so verloren wirkte. Meist lächelte er – kein falsches
Lächeln, sondern eines, das ernst gemeint war. Wenn Linus seinen Vater so
niedergeschlagen wie heute sah, erkannte er ihn kaum wieder.  
    „Verstehst du mich jetzt? Verstehst du,
warum ich Angst habe, Angst davor, auch noch dich zu verlieren?“ Mortis ergriff
Linus’ Hand. Seine Finger waren ganz rau vom Umblättern der Buchseiten.
„Versprichst du mir, nie wieder zu stehlen? Nie wieder nachts hinauszugehen
ohne meine Erlaubnis?“
    Linus schaute zu den Büchern am Kamin. Wie
sollte er nur ohne das Stehlen auskommen? Nie wieder würde er durch Fenster
schlüpfen, nie wieder an Regalen vorbeischweben, ganz leise, ganz vorsichtig,
immer und immer darauf bedacht, dass ihn niemand hörte. Er war eine Mondschwinge,
er musste so etwas tun, das gehört dazu.
    Als er sich dann aber zu Mortis umsah, dem
Mortis ohne Lächeln, als er sich seine blonde, große Mutter vorstellte, wie sie
ganz allein durch den Trudanwald lief und nie wieder zurückkam, da verstand er,
dass er Mortis das Versprechen geben musste.
    „Ja“, sagte er und das Wort wurde fast
verschluckt vom Regen, „Ja, ich verspreche es.“
    Mortis klopfte ihm mit den rauen Fingern
auf den Handrücken, wie draußen der Regen auf die Burg. „Gute Entscheidung,
wirklich gute Entscheidung“, flüsterte er und lächelte jenes Lächeln, welches
Linus so gut kannte.  
                                                  

 
    In dieser Nacht begann es zu schneien.
Große, dicke Flocken, die sich auf die Dächer der Burg setzten und die ohnehin
schon eisigen Straßen noch rutschiger machten. Als Linus aufwachte und
hinausschaute, war das erste, was er sah, der schneebedeckte Wald. Weiße Arme
streckten nach dem weißen Himmel, nur ein paar rote Blätter zitterten im Wind.
Der Winter hatte begonnen und in Malvö dauerte er nur selten kurz. Wenn es einmal
schneite, schneite es lang.
      „Schrecklich, nicht wahr?“, sagte Mortis und
schaute von einem seiner Bücher auf. Er saß an einem Tisch, in der Ecke des
Gemachs, wo er sicherlich schon den ganzen Morgen lang gelesen hatte.
    Das Bernsteinfest würde schon morgen
beginnen.
    Linus zuckte mit den Schultern. „Es ist der
erste Schnee dieses Jahr.“
    „Ah, natürlich“, seufzte Mortis. „Die erste
Schneeballschlacht diesen Winter.“
    „Ich werde schon aufpassen.“ Linus
schlüpfte aus dem Bett, warf sich den Mantel über und zog seine Stiefel an.
    „Du weißt, dass ich diese Schlachten nicht
mag“, warf Mortis ein und versuchte streng auszusehen.
      „Ich
werde es überleben“, erwiderte Linus und sah über die Schulter zurück zu
Mortis. „Bevor es dunkel ist, werde ich wieder zu Hause sein.“ Dann verschwand
er, ließ das Zimmer hinter sich und eilte den Gang entlang, an den
Bogenfenstern vorbei, hinter denen der Schnee noch immer tanzte.
    Orvill sah er schon von weitem. Mit
finsterer Miene kam er das Treppenportal empor und verschränkte die Arme vor
der schmalen Brust, als er Linus erblickte.
    Hoffentlich war die Schlacht nicht schon
vorbei! Am Morgen   des ersten Wintertages
versammelten sich die Jungen der Frostburg auf dem Marktplatz, um zusammen in
die Schlacht zu ziehen. Die Sonne hinter den Fenstern stand schon hoch und
verriet Linus, dass der Morgen längst vorbei war.
    „Du bist zu spät“, tönte Orvill mit der
spitzen Nase. „Die Sündenherzen wollten nicht auf
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