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Mondscheinjammer

Mondscheinjammer

Titel: Mondscheinjammer
Autoren: Marie Hoehne
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an.
     
    Die Luft stand warm und stickig in meinem Zimmer. Ich hatte beide Fenster weit geöffnet, damit wenigstens ein wenig Wind hereinkommen konnte, doch eigentlich hätte ich mir das auch sparen können. Nicht ein einziger Hauch war zu spüren.
    Ich konnte meine Eltern in der Küche reden hören. Das Gemurmel ihrer Stimmen drang undeutlich zu mir herauf.
    Müde fuhr ich mir über das Gesicht und betrachtete gedankenverloren den kleinen Kalender über meinem Bett. Eine Entenfamilie marschierte frohen Mutes durch den Monat September, von dem ich bereits die ersten drei Wochen erfolgreich hinter mich gebracht hatte. Jeder vergangene Tag war mit einem dicken roten Strich gekennzeichnet worden. 305 Tage lagen noch vor mir. Eine endlos lange Zeit.
    Kim hatte mir den Kalender zum Abschied geschenkt. Sie hatte ein Foto von uns beiden über das Titelblatt geklebt und mich ganz fest in den Arm genommen. Sie fehlte mir, vor allem jetzt, wo ich mich von Tom so schrecklich hintergangen fühlte. Ich musste unbedingt mit ihr sprechen. Doch der Messenger blieb leer. Kim war nicht online.
    Ich griff nach dem kleinen Büchlein neben meinem Bett und versuchte zu lesen. Das Zirpen der Grillen drang an mein Ohr, und als ich ein Auto herannahen hörte, gab ich es auf. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.
    "Na Manfred, ist dir auch warm?" Ich beugte mich über den bunten Käfig und betrachtete das kleine haarige Wesen. Es starrte zurück, und ich überlegte einige Sekunden lang, ob ich ihn aus dem Käfig holen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Das letzte Mal hatte eine geschlagene halbe Stunde gebraucht, um ihn wieder einzufangen.
    Autotüren schlugen laut zu, und ich trat neugierig ans Fenster. Ich entdeckte Sams alten Pickup. Er stand vor unserem Haus. Mein Blick wanderte über die staubige Einfahrt, doch er war nirgendwo zu sehen. Ob er wieder einmal länger arbeitete? In letzter Zeit war er oft noch bis tief in die Nacht auf unserem Hof gewesen. Immer, wenn wir uns begegneten, tippte er sich an seinen Hut und nickte mir kurz zu. Miteinander reden taten wir fast nie, und wenn, zog er mich meist mit irgendetwas auf, wie zum Beispiel meiner Unfähigkeit, den Hühnern die Eier direkt unter ihrem gefederten Hinterteilen wegzuziehen. Ich hatte jedes Mal wahnsinnige Angst, von ihren spitzen Schnäbeln attackiert zu werden. Eine Tatsache, die Sam mehr als amüsant zu finden schien. Wenn er dann über mich lachte, ärgerte ich mich. Ich war kein Püppchen, ich lief nicht in Spitzenkleidchen und Lackschuhen durch die Gegend, ich war es nur einfach nicht gewohnt, mit Tieren zu arbeiten oder mich auf einem Hof zurecht zu finden. Es war nicht fair. Ich wollte ihn einmal auf der 5th Avenue sehen!
    Lautes Gelächter drang an mein Ohr.
    Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb sieben. Es nützte ja alles nicht, ich musste zu Ashley, auch wenn ich dafür wieder einmal einen dummen Spruch von Sam ernten würde. Vielleicht hatte er ja diesmal etwas an meinem Fahrkünsten auszusetzen. Mom hatte mir versprochen, dass ich ihr Auto nehmen durfte. Also schnappte ich mir kurzerhand Manfreds Käfig und stieg langsam die Treppe zum Erdgeschoss hinunter.
    Im Wohnzimmer saß mein Dad zusammen mit drei anderen Arbeitern seiner Farm. Auch Sam war da, genau, wie ich es erwartet hatte. Sie waren die einzigen, die während Cals Krankheit unser Haus betreten durften und auch nur, weil sie alle bereits nachweislich unter Windpocken gelitten hatten. Mom war in dieser Hinsicht wirklich mehr als streng.
    Ich grüßte freundlich, doch sie waren viel zu beschäftigt, um mich zu beachten.
    Nur Sam sah mich an. Wortlos nickte er mir zu, während er meinem Vater weiterhin lauschte, und ich beeilte mich, aus dem Haus zu kommen.
     
    Das Haus der Carters lag etwas abgelegen am Ende der Main Street. Hinter dem großen alten Gebäude begann bereits der Wald, für jeden New Yorker ein Traum, wenn man bedachte, dass es in der Stadt kaum eine unverbaute Fläche gab.
    Trotzdem saß ich erst einmal gefühlte zehn Minuten in Moms Wagen, bevor ich mich aufraffen konnte, auszusteigen.
    "Wir müssen da jetzt rein, Mani." Ich beobachtete, wie das Licht im ersten Stock erlosch und kurz darauf in der Küche aufflammte. "Also, so sieht der Plan aus." Ich warf Manfred einen kurzen Blick zu. Der rote Käfig stand auf dem Beifahrersitz, von Manfred war allerdings keine Spur zu sehen. Er wusste schon, warum er sich in seinem quietschblauen Häuschen verkrochen hatte.
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