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Mondscheingeflüster

Titel: Mondscheingeflüster
Autoren: Bastei Lübbe
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meine Eltern anrufen.«
    Vorsichtig stand Ted auf. Das Bein tat so weh, dass sich vor Schmerz seine Augen mit Tränen füllten. Er würde sich auf Lucy stützen müssen, anders konnte er keinen Schritt tun.
    Sie trat neben ihn, er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihre Schulter.
    »Tut mir leid, Lucy. Bin ich zu schwer?«
    »Nein. Es geht schon.«
    Ganz langsam verließen sie den Keller, stiegen Stufe um Stufe die steile Treppe hinauf. Lucy, die sah, wie blass Ted geworden war, hielt immer wieder inne. »Geht es wirklich?«
    »Klar.«
    Keine Macht der Welt hätte Ted auch nur eine Minute länger in dem Keller gehalten. Er wollte endlich wieder das Tageslicht sehen, endlich wieder frische Luft atmen. Oben im Gang konnte er schon den Schnee riechen. Die Haustür war nur angelehnt. Er stieß sie auf ... nie hätte er gedacht, dass ihn der Anblick einer Straße entzücken könnte, dass er den Himmel, einen kahlen Baum, einen vorüberhastenden Menschen so euphorisch begrüßen würde. Es war ihm, als habe er nicht Tage, sondern Wochen da unten verbracht.
    Er atmete ganz tief. »Ist das schön! Zuletzt hatte ich wirklich fast die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder da herauszukommen!«
    Lucy sah ihn an. »Es war nicht richtig, dich eingesperrt zurückzulassen. Ich habe versucht, es den anderen auszureden, aber sie wollten nicht auf mich hören. Natürlich ... ich hätte gar nicht mehr mit ihnen mitgehen dürfen. Aber was sollte ich tun?« Sie strich sich eine ihrer langen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie war sehr bleich an diesem Morgen, und unter ihren Augen hatte sie tiefe Ringe. »Irgendwie ... gehörte ich ja zu ihnen ...«
    »Gehörte? Hast du das absichtlich gesagt?«
    »Ja. Ich gehe nicht zu ihnen zurück.«
    »Aber ... was willst du dann tun?«
    Ted wunderte sich, dass er über ihre Worte erschrak. Würde sie allein schaffen, was sie sich da vornahm? Oder musste er sich von jetzt ab um sie kümmern?
    »Ich werde mich der Polizei stellen. Oh, nicht aus Reue. Ich habe gar nicht so viel verbrochen, und nach wie vor finde ich, dass diese Gesellschaft schuld ist an dem, was sie hervorbringt ... schuld auch daran, dass Menschen zum Heroin greifen ...«
    Machst du es dir da nicht ein bisschen zu einfach?, hätte Ted beinahe gefragt, aber er verbiss sich diese Worte. Wenn Lucy sich schon entschlossen hatte, einen anderen Weg einzuschlagen, brauchte er sich nicht noch als Oberlehrer aufzuspielen. Außerdem - sie brauchte die Chance, bei dieser Kapitulation das Gesicht zu wahren. Er wollte ihr nichts kaputtreden.
    »Na ja. Jedenfalls habe ich keine Lust, wegen dieser Geschichte mit dir für den Rest meines Lebens auf der Flucht sein zu müssen. Wenn ich mich jetzt der Polizei stelle, kann ich es ein für alle Mal hinter mich bringen. Wahrscheinlich muss ich für ein Jahr oder so in den Knast, und das wird bestimmt eine beschissene Zeit. Aber dann bin ich frei - wirklich frei. Vielleicht kann ich noch irgendetwas machen aus meinem Leben.«
    »Natürlich kannst du das. Du bist noch so jung«, sagte Ted. Er dachte, was dies für eine verrückte Situation sei. Entführung - er hatte natürlich immer gewusst, dass es solche Geschichten gibt, aber es nie für möglich gehalten, dass er selber einmal in so etwas hineingeraten würde, und dann befreite ihn auch noch eine der Beteiligten.
    Eine Frau ging vorüber und starrte die beiden jungen Leute ganz erschrocken an. Ted wurde sich bewusst, dass sein Bein ja noch immer blutete. Außerdem konnte er seine Bartstoppeln fühlen, schließlich hatte er sich seit Tagen nicht rasiert. Er musste einen abenteuerlichen und absurden Anblick bieten.
    »Lucy, wenn du Hilfe brauchst, ich werde immer für dich da sein«, sagte er hastig. »Ich werde nie vergessen, dass du zurückgekommen bist und mich befreit hast. Und ich bin ganz sicher, das werden auch die Richter nicht außer Acht lassen. Vielleicht kriegst du sogar Bewährung!«
    »Ich will mal lieber mit dem Schlimmsten rechnen«, sagte Lucy. »Dann bin ich nachher nicht so enttäuscht. Aber danke, Ted. Ich glaube, ich werde jede Hilfe brauchen können. Abgesehen davon ... «, sie blickte in eine andere Richtung, vermied es, Ted anzuschauen. »Abgesehen davon hast du mir ohnehin schon geholfen ...«
    »Ich? Ich habe dir geholfen?«
    »Ja, irgendwie schon. Ich meine, was du mir erzählt hast über dein Leben, über deine Familie ... ich meine, es ist nicht so, dass ich das alles überhaupt nicht mehr in Frage stelle, und ich könnte
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