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Mondgeschöpfe (Phobos)

Mondgeschöpfe (Phobos)

Titel: Mondgeschöpfe (Phobos)
Autoren: Michael Schuck
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reaktionsschnell. Zweiundzwanzig Jahre ist sie alt, und ihr Körper steckt voller Energie. Aber wenn es dunkel wird, kommt Tamisrah und nimmt ihr alle Kraft. Sie weiß genau, wenn sie jetzt so liegen bleibt, wird sie sich nie wieder erheben.
    "Es ist aussichtslos", sagt der Buddha auf dem Sideboard, dessen Gesichtszüge sich verfinstern, so dass Emela sie schon nicht mehr recht erkennen kann. Es ist, als flössen Schatten durch die Fensterscheiben, bedeckten den Boden des Zimmers und stiegen immer höher.
    "Gib auf!" , flüstert das kleine Porzellanreh in der Glasvitrine. "Gib doch auf! Du schaffst es nicht."
    Emela weiß genau, wovon sie reden, diese Stimmen, die sie so gut kennt. In monotonem Rhythmus krachen die Wellen an den Strand. Emela liegt auf ihrem Bett, und um sie herum steigt die Schwärze Tamisrahs immer höher, wie die Flut am Strand.
    Emela weiß, dass sie jetzt eigentlich nur aufstehen muss. Sie weiß, dass sie sich erheben muss, die Füße auf den Boden setzen und dann gehen, Schritt für Schrit t. Wenn sie erst einmal in Bewegung ist, werden die dunklen Nebel Tamisrahs vor ihren Füßen zurückweichen, sie werden sich in Nichts auflösen.
    Emela weiß das. Aber auf ihrem Körper lastet ein unbeschreibliches Gewicht. Tamisrah presst sich auf sie, drückt ihr den Atem aus den Lungen.
    Wie aufgescheuchte Fische im Aquarium beginnen ihr die Gedanken durch den Kopf zu spritzen. Innere Befehle: "Reiß dich zusammen! Steh doch auf! Lass dich nicht kleinkriegen!", klingen ihr im Kopf. Ihre langen dunkelblonden Haare kleben strähnig aneinander und legen sich um ihren Hals wie ein Strick.
     
    Riss!
     
    Die Erinnerung dreht ihr inneres Rad zurück und hält an, als Emela zehn Jahre alt war. Emela saß am Klavier und entlockte ihm wunderschöne Weisen, das Stück, das sie schon so oft geübt hatte. Und sie spielte es für ihn! Er war ein Mann mittleren Alters und verdiente sich ein Zubrot als Klavierlehrer. Einer dieser rührenden Verlierer. Einer, der nie hart sein konnte. Einer von denen, die mit Sicherheit im falschen Beruf landen und die falsche Frau heiraten.
    Einer von denen, die unter ihren unsensiblen Nachbarn leiden und im Übrigen immer falsch angezogen sind. Das alles wusste Emela natürlich noch nicht. Sie war ja noch jung. Vielleicht ahnte sie es ein bisschen. Jedenfalls spürte sie deutlich, dass sie ihn beeindrucken konnte. Sie genoss es, für ihn zu spielen, und sie genoss es, mit ihm zu spielen. Er verstand etwas von Musik. Und wenn sie dann, gewissermaßen als Höhepunkt ihrer gemeinsamen Stunden, gemeinsam spielten, dann hoben sie ab, dann flogen sie mit dem Klavier in einen Kosmos der Unendlichkeit, in dem Milliarden Sterne funkelten. Ihrer beider Hände glitten so einfühlsam über die Tasten, wie die Hände des Liebenden über den Körper der Geliebten. Und wenn Emela einmal vor Verwandten spielen musste - leider kam das viel zu oft vor -, dann stellte sie sich vor, dass sie nur für ihn spielte. Sofort durchflossen dann wunderschöne Melodien den Raum und wirkten ein unsichtbares Band zu ihm, dem Geliebten. Keiner ihrer Verwandten, die ihr damals zuschauten, hatte auch nur im Geringsten geahnt, dass die Zehnjährige gerade jetzt, während aller Augen auf ihr ruhten, eine durchaus bewusste Liebesbrücke zu ihrem Geliebten aufbaute. Sie nahmen ihr hingebungsvolles Spiel als frühes Talent. Tatsächlich war es die Sehnsucht nach dem Geliebten, der ihren Händen musikalische Flügel verlieh.
     
    Riss!
     
    Bis zu dem Gefühl der Sehnsucht kann Emelas Unterbewusstsein die Rückdrift gerade noch zulassen. Aber dann - als habe es einen geheimen Befehl bekommen - wirft es sie in ihre schweißtriefende Gegenwart zurück. Emela ist so müde. Aber sie kann jetzt nicht einschlafen. Sie darf es nicht. Denn nicht nur in den dunklen Ecken des Hauses, auch in der Tiefe des Schlafes lauern die Ungeheuer Tamisrahs.
    Die Sonnenblume auf dem van Gogh-Druck murmelt: "Du schaffst es nicht. Es ist unmöglich. Du hast keine Kraft mehr. Du bist am Ende. Du hältst es nicht aus."
    Emela, die schnelle Emela, liegt auf der Matratze und ist gelähmt. Und es wird Stunden dauern, Stunden endloser Qualen, bis sich die Lähmung auflöst. Bis sie sich vielleicht auflöst! Und könnte es nicht tatsächlich sein, dass die Lähmung sich einmal nicht mehr auflösen würde?
    Emelas Finger, die soviel Kraft in sich tragen, wenn sie Tennis spielt, die soviel Klang am Klavier entwickeln können, umklammern den Rand der
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